WGKK-Chefin Ingrid Reischl und GÖG-Geschäftsführer Herwig Ostermann diskutieren über Ressourcen und ihren Einsatz im Gesundheitssystem.

Foto: Katsey

STANDARD: Die Krankenkassen geben pro Jahr rund 17 Milliarden Euro für Leistungen aus. Sind Sie zufrieden damit?

Ingrid Reischl: In Umfragen sehen wir, dass die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten hoch ist, wenn es um die Behandlung bei akuten und schweren Erkrankungen geht. Womit sie in letzter Zeit zunehmend unzufrieden sind, sind lange Wartezeiten. Österreich ist (nach Griechenland, Anm.) das Land mit den zweitmeisten Ärzten aller OECD-Länder. Trotzdem haben wir sowohl im Spital als auch in den Ordinationen manchmal lange Wartezeiten. Dagegen müssen wir etwas tun. Objektiv gesehen haben wir aber sicher eines der besten Gesundheitssysteme.

STANDARD: Auch eines der teuersten. Trotzdem sind Menschen in Österreich nicht gesünder. Warum?

Ostermann: Dass wir für Gesundheit viel Geld ausgeben, ist per se nichts Negatives. Eine reiche Gesellschaft kann sich das leisten. Um die Zahl der gesunden Lebensjahre zu erhöhen, müssten wir vor allem in die Gesundheitsförderung investieren, das heißt vor allem gesunde Lebens- und Arbeitsbedingungen schaffen. Daneben müssten wir auch dafür sorgen, dass im Falle von Krankheit oder Pflegebedürftigkeit die einzelnen Systeme – also Spitäler, Ärzte, Pflege und andere Angebote – besser zusammenarbeiten. Da ist Österreich nicht gut.

Reischl: Wir brauchen definitiv eine bessere Zusammenarbeit der unterschiedlichen Sektoren. Das ist auch ein klares Ziel der Gesundheitsreform. Wir sind auf einem guten Weg. Das Problem haben aber auch andere Länder. Selbst in Deutschland, wo die Krankenkassen auch für die Spitäler zuständig sind, kämpfen sie mit den Grenzen zwischen den Sektoren.

Ostermann: Die wichtigste Voraussetzung für die Lösung dieser Probleme ist eine gute Vernetzung der Daten. Ich will dies an einem Beispiel illustrieren: Wenn in der italienischen Region Veneto das Gesundheits- und Sozialsystem aufgrund der Diagnosen Hinweise erhält, dass sich der Gesundheitszustand einer älteren, multimorbiden Patientin verschlechtert haben könnte, dann kommt automatisch jemand von einem Pflegedienst und schaut, ob es hier Bedarf an einer Langzeitpflege gibt. Dazu brauchen wir aber Datengrundlagen, mit denen wir solche Patientenkarrieren verfolgen können. Auch Telegesundheitsdienste können helfen. Ich erwarte mir auch, dass die Akademisierung und Aufwertung der Pflege zu einer besseren Koordination der Leistungen führen wird.

STANDARD: Solche Daten haben wir in Österreich nicht. Gerade über die Behandlungen außerhalb der Spitäler wissen wir so gut wie nichts. Wie kann man da überhaupt planen?

Reischl: Eine einheitliche Codierung bei den niedergelassenen Ärzten ist seit vielen Jahren ein dringender Wunsch von mir. Ich habe es aber noch nicht geschafft, diesen Verhandlungspunkt in den Gesamtvertrag mit der Ärztekammer zu bringen. So viel Geld, wie die Ärzte dafür haben wollen, haben wir nicht. Im ersten Primärversorgungszentrum in Wien haben wir das aber vertraglich vereinbart. Das werden wir auch in allen künftigen Zentren so machen. Trotzdem würde ich mir eine gesetzliche Verpflichtung für alle Ordinationen wünschen.

Ostermann: Wenn ich beispielsweise in den Sommermonaten sehe, dass die Akutaufnahmen in einem Krankenhaus bei betagten Personen mit einer bestimmten Wohnpostleitzahl wegen Dehydration zunehmen, dann kann man möglicherweise Rückschlüsse auf die Betreuung in einem konkreten Pflegeheim ziehen.

STANDARD: Wir wissen zum Beispiel, dass die Versorgung von Diabetikern in Österreich sehr unterschiedlich ist. In manchen Regionen gibt es viel mehr Komplikationen und Amputationen. Woran liegt das?

Ostermann: Das ist richtig. In der Steiermark gibt es zum Beispiel Hinweise auf weniger Spitalsaufnahmen aufgrund von Komplikationen mit Diabetes. Das könnte daran liegen, dass hier das Disease-Management-Programm für Diabetes entwickelt und sehr früh gestartet wurde. Je besser die Versorgung im niedergelassenen Bereich funktioniert, je kontinuierlicher Patienten mit Diabetes betreut werden, umso seltener sind Spitalsaufenthalte und Komplikationen.

Natürlich spielt es auch eine Rolle, wie hoch der Anteil an Diabetikern in der Region ist und wie viele Spitäler es dort gibt. Die Gründe für Auffälligkeiten in der Versorgung können mannigfaltig sein. Wichtig ist, zunächst einmal die Informationen zu strukturieren und dann zu hinterfragen, woher die Unterschiede kommen. Ich glaube, wir stehen hier wirklich vor einer Datenrevolution. Es ist sicher noch ein langer Weg, aber wir lernen jetzt gemeinsam, mit diesen neuen Informationen zu arbeiten. Wir haben eine Verantwortung, mit den vorhandenen Ressourcen die bestmögliche Versorgung für die Bevölkerung herauszuholen.

STANDARD: Es ist nicht sehr beruhigend, in einer Region zu wohnen, in der mehr Beine amputiert oder Gebärmutteroperationen durchgeführt werden. Wie ist die Politik gefordert?

Ostermann: In Großbritannien hat man einen Atlas der Variationen herausgegeben. Da kann man in jedem Bezirk nachsehen, wie die Versorgung aussieht. Das lässt aber noch keinen Schluss auf gut oder schlecht zu. Die OECD veröffentlicht über ganz Europa die Raten an Knie- und Hüftendoprothesen. Eine geringe Rate kann unter Umständen Aufschluss darüber geben, dass die Bevölkerung in einer Region unterversorgt ist.

Eine hohe Rate könnte aber auch bedeuten, dass man eine Zweitmeinung einholen sollte, weil möglicherweise zu viel operiert wird. Wir müssen mit Information vorsichtig umgehen und dürfen nicht in Stereotypen "gut" und "schlecht" denken.

Reischl: Manches ist wirklich absurd. Da gibt es zum Beispiel eine Region in Kärnten, in der im Vergleich zu Restösterreich unglaublich viele abstehende Ohren operiert werden. Da gibt es keinen Gendefekt in der Bevölkerung, sondern jemanden, der das besonders gerne operiert.

STANDARD: Mehr muss nicht immer besser sein. Eine Studie aus den USA stellt fest, dass 30 Prozent der Gesundheitsausgaben "waste" sind, also Verschwendung oder sogar gefährlich für Patienten. Erscheint Ihnen das plausibel?

Ostermann: Es ist jedenfalls nicht unplausibel, wobei mir der Anteil der Verschwendung eher hochgegriffen erscheint. Die Dimension ist aber gar nicht ausschlaggebend. Vielmehr ist es die große Kunst festzustellen, welche 30 Prozent das sind. Wir wollen ja nicht die 70 Prozent erwischen. Eine sinnvolle Maßnahme kann zum Beispiel sein, Leistungen vom Spital in Tageskliniken zu verlagern. Das hat für die Patienten den Vorteil, dass sie bald wieder in ihr gewohntes Umfeld zurückkehren können, und sie sind auch besser vor Spitalskeimen geschützt.

STANDARD: In manchen Ländern gibt es Listen mit Leistungen, die man besser nicht über sich ergehen lässt. Dazu zählen etwa Antibiotika bei leichten Infekten. Gibt es das auch schon bei uns?

Reischl: Als ich Obfrau geworden bin, hat die Wiener Gebietskrankenkasse noch Sommercamps für übergewichtige Kinder bezahlt, damit sie dort abnehmen. Das haben sie auch gemacht, aber es gab keinen nachhaltigen Erfolg, sobald sie wieder zu Hause waren. Heute bieten wir den Kindern eine abgestimmte medizinische und therapeutische Betreuung in ihrem gewohnten Umfeld und beziehen auch die Eltern mit ein. Dadurch geben wir das Geld sicher sinnvoller aus. Wir informieren die Ärzte auch regelmäßig, wie sie ökonomischer behandeln können. Dazu gehört, dass man nicht immer sofort ein Antibiotikum verschreibt. Gerade bei älteren Menschen besteht auch die Gefahr, dass sie generell zu viele Medikamente bekommen.

Kennen die Fronten im Gesundheitssystem: Ingrid Reischl (WGKK) und Herwig Ostermann (Gesundheit Österreich)
Foto: Katsey

STANDARD: Meistens freuen sich die Ärzte aber nicht über Belehrungen der Krankenkassen.

Reischl: Ja (lacht), da muss man auch sehr vorsichtig sein, damit sie sich nicht auf den Schlips getreten fühlen. Meistens haben die Patienten die vielen Medikamente auch nicht von einem einzigen Arzt, sondern von mehreren. Der Allgemeinmediziner hat da oft gar keinen Überblick mehr. Darum erwarte ich mir von der E-Medikation sehr viel.

STANDARD: In manchen Ländern werden Qualitätsdaten veröffentlicht. Sollten die Patienten nicht auch bei uns mehr wissen?

Ostermann: Studien aus den USA und Großbritannien zeigen, dass es das Verhalten der Patienten wenig beeinflusst. Wenn man aber nur die Leistungserbringer über die Qualitätsdaten informiert und nicht die Öffentlichkeit, ist die Auswirkung ebenfalls sehr gering. Insbesondere aus letzterem Grund ist es wichtig, gute und schlechte Qualität transparent zu machen. Denn erst, wenn die Ergebnisse auch veröffentlicht werden, entsteht Druck, Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung umzusetzen. Und dort, wo es Hinweise auf schlechte Qualität gibt, gilt es nach den Gründen zu forschen und die Leistungserbringer bei der Verbesserung zu unterstützen.

STANDARD: Auf dem Webportal kliniksuche.at kann man nachlesen, dass es in Österreich Spitäler gibt, die drei Mandeloperationen pro Jahr machen. Würden Sie mit Ihrem Kind dort hingehen?

Reischl: Ich persönlich würde dort nicht hingehen. Bei bestimmten Operationen haben wir in Wien bereits Mindestfallzahlen festgelegt. Ein Spital, in dem wenig operiert wird, bekommt kein Geld mehr für diese Leistung. Das funktioniert auch schon gut.

Ostermann: Natürlich wünschen wir uns eine möglichst große Konzentration der Leistungen und hohe Fallzahlen. Wer eine OP oft durchführt, kann sie auch besser. Auf der anderen Seite ist es wichtig, dass die Spitäler für die Bevölkerung auch gut erreichbar sind. Wir sollten also schauen, dass wir die komplizierteren Erkrankungen in spezialisierten Zentren behandeln und wohnortnahe bei den Menschen eine Basisversorgung anbieten. Das ist ein Dialog, der nicht einfach zu führen ist. Es ist im Interesse der Patientinnen und Patienten.

STANDARD: Jährlich werden in Österreich pro Person 89 Euro für Prävention und Gesundheitsförderung ausgegeben. Ist das genug?

Reischl: Wir haben im Zuge der Gesundheitsreform einen eigenen Präventionstopf geschaffen, der jährlich mit 150 Millionen gefüllt wird. Das war sehr sinnvoll, denn dadurch konnten wir das Geld für gezielte Maßnahmen bündeln. In Wien lag ein Schwerpunkt bei der Zahngesundheit. Der Zahnstatus der Wiener Kinder ist extrem schlecht. Wir haben nun ein bewährtes Karies-Präventionsprogramm auf alle Kindergärten und Schulen ausgerollt.

In den Bezirken, in denen es besonders viel Karies gibt, haben wir eine Massivprophylaxe gestartet. Insgesamt gab es mehr als 4000 Behandlungsempfehlungen. Natürlich könnten wir mit mehr Geld noch viele Projekte in dieser Art machen. Aber wir haben gerade wieder hohe Steigerungen bei den Ausgaben für Medikamente, wo wir exorbitante Preise für eine Handvoll Medikamente zahlen. Wenn wir das in die Prävention stecken würden, könnten wir unheimlich viel erreichen.

STANDARD: Lässt sich mit Vorsorge viel Geld sparen?

Ostermann: Wir haben eine Zeitverzögerung. Das, was wir jetzt investieren, rechnet sich erst später in Form von vermiedenen Erkrankungen. Das ist dann problematisch, wenn ich die Entscheidung treffen muss, ob wir Geld in eine kurative oder in eine präventive Leistung stecken. Es gibt aber auch Vorsorgemaßnahmen mit einem unmittelbaren Effekt. Zum Beispiel günstige Impfungen, die eine Krankheit verhindern.

STANDARD: Eine Studie der Linzer Kepler-Universität kam zu dem Ergebnis, dass die jährliche Vorsorgeuntersuchung wenig bringt. Die Leute sind weder gesünder, noch kann man damit Geld sparen. Ist das für Sie nachvollziehbar?

Reischl: Ich würde die Gesundenuntersuchung gerne hinterfragen. In Wien gehen vorwiegend Menschen hin, die auch sonst jedes Quartal mindestens einmal einen Arzt aufsuchen. Wir schicken darum die Einladungen nicht mehr an alle Versicherten, sondern nur an jene, die schon lange nicht mehr beim Arzt waren. Gesundheitsförderung in Betrieben bringt meiner Ansicht nach viel mehr. Dort kann man sehen, dass die Krankenstände sinken und die Arbeitszufriedenheit steigt. Da sollten wir in Zukunft unsere Schwerpunkte setzen.

STANDARD: Wenn es eine Maßnahme gäbe, die Sie schnell umsetzen könnten, welche wäre das?

Reischl: Wir haben uns in Wien vorgenommen, die Primärversorgung rasch auf neue Füße zu stellen. Das erste PHC in Mariahilf hat bereits in einem Jahr alle Versorgungsziele erfüllt. Mit ein bisschen Flexibilität der Ärztekammer könnten wir damit bald die Spitäler entlasten. Ich kann mir vorstellen, dass wir in ein paar Jahren 30 Prozent der Bevölkerung in Primärversorgungszentren oder -netzwerken behandeln.

Ostermann: Ich würde mir wünschen, dass wir mit der Integration der gesamten Gesundheitsleistungen schneller vorankommen. Es geht auch darum, den Sozialbereich mit an Bord zu holen und die Übergänge besser zu gestalten. Unser Ziel ist eine abgestimmte und kontinuierliche Versorgung der Bevölkerung. Um das zu ermöglichen, brauchen wir auch die entsprechenden Daten, um die Behandlungswege über die Sektoren hinweg nachzeichnen zu können. Solange wir das nicht tun, ist unsere Trefferquote ziemlich eingeschränkt. (Andrea Fried, CURE, 27.9.2016)

Zum Weiterlesen:

Online-Übersetzungshilfe für Arztbefunde

Transparenz verbessert Arzt-Patienten-Verhältnis

Perfekter Arzt, perfekter Patient