Die Pumpe fürs Leben: Sie funktioniert optimal, wenn auch der Druck in den Blutgefäßen stimmt. Mit den Lebensjahren verändern sich die Werte, zur Regulierung werden Medikamente verschrieben.

Illustration: Blagovesta Bakardjieva

Ja, was denn nun? Die Empfehlungen erinnern an eine Fieberkurve, und so manch ein Arzt weiß nicht mehr, was er seinen Patienten raten soll. Dabei stellt sich das Problem ziemlich oft. Wie tief soll man den Blutdruck bei Leuten mit zu hohem Druck senken? Seit 1976 gibt eine internationale US-Expertengruppe, das Joint National Committee (JNC), regelmäßig Empfehlungen zu Blutdruckwerten heraus. Eine Zickzackkurve: Anfangs sollte erst ab 160 zu 100 behandelt werden, dann galt das Ziel 140 zu 90, dann wurde der obere Wert wieder auf 150 erhöht.

Komplett verwirrt wurden manche Ärzte durch jüngst erschienene Sprint-Studie: Patienten, deren Druck auf unter 120 zu 80 eingestellt worden war, lebten länger. Also doch eher mehr senken? Dafür schien auch die kurz darauf veröffentlichte Metaanalyse aus 123 Studien mit insgesamt 613.815 Teilnehmern zu sprechen. Pro Zehn-Millimeter-Quecksilbersäule- Blutdrucksenkung sank das Risiko für Herz- und Gefäßkrankheiten und damit das Risiko für vorzeitigen Tod deutlich, am größten war der Effekt bei einem oberen Wert von unter 130 mmHg.

"So einfach ist das nicht"

Selbst Menschen über 75 Jahre scheinen davon zu profitieren, wie die neue Teilanalyse der Sprint-Studie zeigt. Senioren mit einem Druck unter 120 bekamen seltener Herz-Kreislauf-Krankheiten, und es starben weniger.

Sollen jetzt alle Menschen mit Bluthochdruck mehr Medikamente nehmen, damit sie länger leben? "So einfach ist das nicht", sagt Sven Streit, Forscher am Institut für Hausarztmedizin in Bern. "Die Ergebnisse von Studien gelten nicht automatisch für jeden Patienten."

Bluthochdruck ist ein "stiller Mörder". Am Anfang verursacht er keine oder nur wenige Symptome, sodass die Erkrankung oft zu spät erkannt wird oder Patienten nicht einsehen, warum sie Medikamente einnehmen müssen. 93 Prozent der Menschen in Österreich mit Bluthochdruck sind sich zwar bewusst, dass sie diese Krankheit haben, 90 Prozent nehmen Medikamente dagegen. Doch nur bei 41 Prozent ist der Blutdruck unter Kontrolle, das heißt, der Druck ist unter 140 zu 90 mmHg.

Wert abhängig von der Tageszeit

Die Abkürzung mmHg bezeichnet jenen Druck, den das Blut in den Blutgefäßen ausübt. Typischerweise sind es zwei Werte, zum Beispiel "120 zu 80". Das Herz pumpt das Blut mit jedem Herzschlag stoßweise in die Gefäße, was den Druck kurz ansteigen lässt – das ist der systolische, der obere Wert. Erschlafft das Herz und füllt sich wieder mit Blut, fällt der Druck, und der dabei erreichte niedrigste Wert ist der untere, der diastolische.

Als der Brite Stephen Hales im Jahre 1733 zum ersten Mal den Blutdruck bei einem Lebewesen maß, wusste er noch nicht, dass der Druck bei jedem Lebewesen variiert, abhängig von der Tageszeit und davon, was es gerade macht. Hales legte eine lebende Stute auf den Rücken, band sie fest, öffnete eine Schlagader am Bein, ließ das Blut in ein Glasrohr aufsteigen und bestimmte die Höhe: 8 Fuß 3 Inches, also 204,75 Zentimeter.

Hales war sich damals noch nicht bewusst, dass manche Menschen einen zu hohen Blutdruck haben und dass das schlecht für ihre Gesundheit ist. Erst seit der großen Framingham-Studie, die 1948 begann, ist bekannt, dass Millionen von Herzinfarkten und Schlaganfällen durch Bluthochdruck verursacht werden.

In den 1970er-Jahren belegte eine große Studie mit US-Veteranen, dass man mit Medikamenten Herzinfarkte, Schlaganfälle und Todesfälle vermeiden kann. Doch eines ist bis heute nicht klar: Welcher Wert ist gesund und welcher krank? "Ein Druck unter 120 zu 80 ist gut, und höher als 140 zu 90 ist schlecht", sagt Thomas Weber, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Hypertensiologie und Oberarzt am Klinikum Wels-Grieskirchen. "Es gibt aber für Menschen mit Bluthochdruck keinen Zielwert, der für alle passt", sagt Weber, "man muss das individuell entscheiden."

Individuelle Einstellung

So riet er neulich seinem 57-jährigen fitten Patienten, möglichst einen Zielwert des systolischen Drucks von 120 anzustreben. "Der Mann raucht, ist übergewichtig und hat zu hohe Cholesterinwerte", erklärt er, "alles Faktoren, die das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erhöhen. Bei diesem Patienten möchte ich den Druck so niedrig wie möglich senken, um den zusätzlichen Risikofaktor Bluthochdruck zu minimieren."

Bei dem 82-jährigen, gebrechlichen Patienten neulich mit Blutdruck 120 zu 70, dem beim Aufstehen öfter schwindelig wurde, reduzierte er die Dosis der Medikamente. "Offenbar verträgt er den niedrigen Druck nicht so gut. Senke ich die Dosis, reduziere ich das Risiko für Schwindel, eine häufige Nebenwirkung von zu geringem Blutdruck."

Thomas Lüscher, Direktor der Kardiologie am Unispital Zürich, warnt, Studienergebnisse leichtfertig auf den Alltag zu übertragen. "Man muss genau darauf achten, welche Patienten die Forscher untersuchten." So waren in der Sprint-Studie nur solche mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten eingeschlossen – wie der 57-Jährige –, darunter aber nicht diejenigen mit Diabetes oder schwerer Nierenkrankheit. "Ob auch diese Leute oder diejenigen ohne Risikofaktoren von der stärkeren Senkung profitieren, sagt uns Sprint nicht", so Lüscher.

Auch bei der Studie zu den über 75-Jährigen waren viele Krankheiten ausgeschlossen, unter denen ältere Menschen oft leiden oder die sie durchgemacht haben: Diabetes, Demenz, Krebs oder Schlaganfall. "Bei Leuten, bei denen 120 mmHg ohne Nebenwirkungen erreicht werden kann, sollte dieser Druck angestrebt werden", sagt Lüscher. "Bei den übrigen muss man vorsichtig sein." Wichtig sei bei jedem Patienten: "Mit einer geringen Dosis starten und nur langsam steigern – für die Drucksenkung sollte man sich einige Wochen Zeit lassen."

Wen therapieren, wen nicht?

In Studien, bei denen man versuchte, den Blutdruck auf 120 zu senken, litten die Teilnehmer häufiger unter Nierenversagen oder Ohnmachtsanfällen. "Letzteres ist vor allem problematisch für sehr alte Menschen, die ein erhöhtes Risiko für Knochenbrüche haben", sagt Hausarzt Sven Streit vom Berner Institut für Hausarztmedizin, der zurzeit an der Universität Leiden zum Thema forscht.

"Stürzen die Betroffenen, kann das wochenlange Spitalsaufenthalte nach sich ziehen." Für Patienten, die Hausärzte in Europa wegen der steigenden Lebenserwartung immer häufig sehen – nämlich alte, gebrechliche Menschen mit mehreren Krankheiten – gibt es zu wenige Daten, welcher Druck für sie am besten ist.

Deshalb hat Streit gemeinsam mit Kollegen eine internationale Studie gestartet. Die Forscher wollen wissen, wie Hausärzte den Blutdruck bei Menschen über 80 Jahren einstellen, welche Rolle Gebrechlichkeit spielt, und warum bei manchen der hohe Blutdruck gar nicht behandelt wird. 2053 Hausärzte aus 29 Ländern Europas, Brasiliens und Neuseelands sollten bei acht fiktiven 80-Jährigen sagen, wie sie sie behandeln würden.

"Wir haben die Umfrage eben erst abgeschlossen und kennen noch nicht alle Ergebnisse", sagt Streit. "Aber was wir jetzt schon sagen können, ist, dass mehr als 45 Prozent der Ärzte die Patienten erst gar nicht behandeln würden. In einem nächsten Schritt könnten wir untersuchen, ob sich das negativ auswirkt oder, im Gegenteil, nicht sogar besser ist."

Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren

Bei anderen Krankheiten wie Krebs gibt es schon seit längerem Medikamente, die Patienten in genetische Profile einteilen und individuell behandeln. Die Medikamente unterbrechen gezielt den jeweils gestörten Signalweg, was die Symptome lindert und manchmal sogar zur Heilung führt. "Bei Bluthochdruck ist es aber nicht so einfach, solche gezielten Medikamente zu entwickeln", sagt Kardiologe Weber. "Denn Bluthochdruck entsteht nicht durch eine einzelne Veränderung, sondern durch das Zusammenspiel einer Vielzahl von genetischen Veränderungen und dem Lebensstil." Der Kardiologe ist überzeugt, dass man andere Ansätze zur individualisierten Therapie finden muss – und zwar mithilfe von Kreislaufmesswerten.

Bei jüngeren Menschen ist die Hauptschlagader, also die Aorta, noch elastisch und dämpft die Druckwelle des Blutes aus dem Herzen. Wird die Aorta durch den Alterungsprozess oder einen ungesunden Lebensstil steifer, schafft sie das nicht mehr, und der systolische Blutdruck steigt. "Wenn wir wissen, wie elastisch, also wie jung die Gefäße noch sind, können wir sagen, wie hoch das Risiko für Schäden an Herz, Nieren oder Gehirn ist", sagt Weber.

Auf Begeisterung folgt Ernüchterung

Zusammen mit dem Austrian Institute of Technology und dem deutschen Blutdruckmessgerätehersteller I.E.M. hat Weber ein Gerät entwickelt, mit dem sich die Steifigkeit der Aorta von außen messen lässt – und zwar mit einer Manschette am Oberarm wie bei einer herkömmlichen Blutdruckmessung. "Die Messwerte kann man als ,Gefäßalter' bezeichnen, das ist dann auch für Laien verständlich", sagt Weber. "Durch solche Messungen könnten frühzeitig Schäden erkannt und behandelt werden."

Thomas Lüscher zählt bei schwerem Bluthochdruck auf die sogenannte Nierennervenverödung. Dabei werden Nervenbahnen von und zur Niere mithilfe eines Katheters verödet, und die Niere soll dadurch weniger Hormone ausschütten, die den Blutdruck hoch halten. Nach den ersten Studien waren die Forscher begeistert, weil sich der Druck deutlich senken ließ.

Doch die erste Placebo-kontrollierte Studie, bei der die Hälfte der Patienten nur scheinbar verödet wurde, brachte Ernüchterung: Der Druck ließ sich mit dem Katheter nicht besser senken als mit Placebo. "Die Nerven wurden aber nicht genügend verödet, wie sich nun in weiteren Untersuchungen zeigt", sagt Lüscher. "Richtig gemacht senkt die Nierennerven-Ablation den Blutdruck deutlich."

Pharmafirmen forschen indes an Medikamenten mit neuem Wirkmechanismus. Zum Beispiel Substanzen, die die Bildung des blutdrucksteigernden Hormons Aldosteron hemmen. Oder solche, die den Abbau von Angiotensin I oder II fördern, was zur Erweiterung der Blutgefäße führt und den Druck senkt. "Bei den Substanzen wird zurzeit untersucht, ob sie überhaupt wirken und nicht zu viele Nebenwirkungen verursachen", sagt Bluthochdruckforscher Streit. "Ich bin noch skeptisch und warte Studien mit mehr Patienten ab."

Mit Hirn und Herz

Ein anderer Ansatz ist eine Impfung, damit der Körper Antikörper bildet, die Angiotensin II quasi unwirksam machen. "Ich fände es natürlich toll, wenn wir dem Patienten mit einer Impfung die lebenslange Medikamenteneinnahme ersparen würden", sagt Streit. Zwar hat eine erste kleine Studie gezeigt, dass man mit der Impfung den Druck etwas senken kann. "Aber der Effekt war im Vergleich zu Blutdruckmitteln so gering, dass man das nicht weiter verfolgt hat. Ob andere Impfungen erfolgreich sein werden, werden wir erst in einigen Jahren wissen."

Es bleibe abzuwarten, stimmt der Wiener Blutdruckspezialist Bruno Watschinger zu, ob die neuen Ansätze auch irgendwann den Weg zum Patienten fänden. "Da wir den Blutdruck mit den vorhandenen jetzt schon gut senken können, ist es für die Pharmafirmen schwierig zu zeigen, dass ein neues Medikament einen zusätzlichen Nutzen hat, der die Entwicklungskosten rechtfertigt."

Bis dahin muss man halt das Beste aus den bisherigen Studien mitnehmen: "Kann ein Druck von unter 120 zu 80 erreicht werden ohne Nebenwirkungen und ohne den Blutfluss in Hirn, Nieren und anderen Organen einzuschränken, spricht nichts dagegen", sagt Franz Messerli, Professor für Kardiologie in New York. "Wir Ärzte sollten aber nach wie vor Patienten behandeln und nicht allein Blutdruckwerte." (Felicitas Witte, CURE, 4.10.2016)