Der Tod pirschte sich diesmal nur langsam an seine Opfer heran. Keine Blutlachen, zertrümmerten Schädel oder abgerissenen Gliedmaßen, wie in Kriegszeiten allgemein üblich – stattdessen zehrte er die Menschen aus, ließ ihre Augen einfallen, fraß ihre Muskeln.

Angefangen hatte alles im Herbst 1944. Der alliierte Vormarsch in den Niederlanden war zum Stillstand gekommen, der größte Teil des Landes blieb nach wie vor von den Deutschen besetzt. Um Truppenbewegungen der Wehrmacht zu stören, rief die niederländische Exilregierung in London zum Eisenbahnstreik auf.

Das gelang, doch die Besatzer blockierten nun sämtliche Transportwege. Praktisch der gesamte Warenverkehr in die dichtbesiedelten Westprovinzen kam zum Erliegen. Es begann die letzte flächendeckende Hungerkatastrophe in Mitteleuropa.

Überlebende berichten noch heute mit Schaudern vom "Hongerwinter". Die meisten von ihnen waren damals noch Kinder, erinnern sich aber, oft mit ihren Eltern bei den Bauern auf dem Land gebettelt zu haben. In den Städten gab es nur noch streng Rationiertes. Ende Februar 1945 standen pro Kopf weniger als 600 Kilokalorien am Tag zur Verfügung. Man kochte wässrige Suppen aus Tulpenzwiebeln und Zuckerrüben, Hunde und Katzen verschwanden. Irgendwann brachen auf der Straße die ersten Menschen tot zusammen.

Im Zuge der Operationen Manna und Chowhound warfen die Royal Air Force und die United States Army Air Forces im Mai 1945 Lebensmittel über dem Flugplatz Schiphol ab, um den Niederländern zu helfen, die unter dem "Hongerwinter" litten.
Foto: wikipedia/NIMH/CC0

Die Leichen wurden mancherorts in Kirchen gelagert, weil der Frost Begräbnisse verhinderte. Brennstoffknappheit verschlimmerte die Lage. Ganze Familien stahlen nachts auf Bahnhofsanlagen unter Lebensgefahr Kohlen, die Besatzungstruppen schossen zur Abschreckung blind in die Dunkelheit. Erst im April 1945, kurz vor Kriegsende, entspannte sich die Situation. Britische und US-amerikanische Bomber warfen Lebensmittel ab. Für etwa 20.000 Menschen kam aber jede Hilfe zu spät. Sie waren schlichtweg verhungert.

Urtrieb des Menschen

Lust und Liebe ließen sich allerdings durch den Hunger nicht unterkriegen. Auch in jenen bitteren Monaten wurden Kinder gezeugt. Die Eltern dürften sie als Zeichen neuer Hoffnung gesehen haben, geboren bald nach der Befreiung. Für die Wissenschaft indes ist ihr Nachwuchs vor allem heute ein echter Glücksfall. Denn so zynisch es vielleicht klingen mag: Die Not der werdenden Mütter setzte gewissermaßen einen medizinischen Großversuch in Gang.

Der Hungerwinter war ein zeitlich und räumlich ganz klar abgegrenztes Ereignis, wie der Mediziner Elmar Tobi von der Universität Leiden erklärt. Bis November 1944 und nach April 1945 gab es keinen Nahrungsmangel. Im bereits befreiten Süden der Niederlande blieb die Bevölkerung die ganze Zeit über gut versorgt. All das eröffnet der Forschung erstklassige Vergleichsmöglichkeiten, betont Tobias. "Und das haben Epidemiologen ganz schnell kapiert."

US-amerikanische Militärärzte waren übrigens die Ersten, die bei den Hungerwinter-Überlebenden Bemerkenswertes beobachteten. Einige Unterernährte zum Beispiel plagten trotz stärkender Kost anhaltende Darmbeschwerden. Jahre später sollte sich herausstellen, dass diese Menschen an Zöliakie litten – eine bis dahin unbekannte Autoimmunkrankheit. Der Hunger hatte somit keine Schuld.

Prägende Veränderungen

Andere Effekte jedoch wurden sehr wohl vom Mangel ausgelöst. In den Chromosomen der im letzten Kriegsjahr gezeugten heranwachsenden Embryos fanden prägende Veränderungen statt. Nicht die DNA selbst wurde modifiziert, sondern ihr biochemisches Umfeld, quasi ihre Verpackung – mit weitreichenden Folgen.

Die Umbauten führten bei bestimmten Genen offenbar zu verstärkter oder verringerter Aktivität. Solche Spuren des Hungerwinters sind im Erbgut der Betroffenen noch immer nachweisbar. Bei ihren etwas später geborenen Geschwistern treten sie in der Form nicht auf. Solche Phänomene erforscht die Epigenetik.

Der Begriff selbst wird fast schon inflationär verwendet. Die Epigenetik gilt zunehmend als der Schlüssel zum tieferen Verständnis des menschlichen Erbguts. Dessen genetischer Code wurde längst dechiffriert, die Steuerung vieler physiologischer Vorgänge lässt sich trotzdem noch nicht nachvollziehen. Dazu braucht es mehr als die schlichte Buchstabenabfolge der DNA.

Weitere Erkenntnisse auf diesem Gebiet könnten zudem der Medizin neue Perspektiven eröffnen. Warum zum Beispiel sind manche Menschen anfälliger für gewisse Krankheiten als andere, auch wenn ihre Gene gesund zu sein scheinen? Antworten auf viele solche Fragen müssen wahrscheinlich in der epigenetischen Kontrolle gesucht werden. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind äußerst komplex und schwer erkundbar. Einige Fachleute bezeichnen das Forschungsgebiet gar als "Wilden Westen der Genetik".

Verpackt, nicht nackt

Es zählt eben nicht nur der Inhalt. DNA liegt in pflanzlichen, tierischen und somit auch menschlichen Zellkernen keinesfalls nackt vor. Die doppelsträngigen Ketten sind die meiste Zeit über um kugelige Proteingebilde aus sogenannten Histonen gewickelt. Die einzelnen DNA-Bausteine, die Basen, können zudem mit kleinen Kohlenwasserstoff-Fragmenten (CH3) ausgestattet werden. Fachleute bezeichnen diesen Prozess als DNA-Methylierung. Auch RNA-Partikel klinken sich in den Ketten ein.

Alle diese Anbindungen haben einen entscheidenden Einfluss auf die Genexpression – sie üben die epigenetische Regulierung aus. Um den Code eines bestimmten DNA-Abschnitts in Proteinbausteine umzuwandeln, muss er zunächst abgelesen werden. Die hierzu erforderliche RNA-Polymerase und deren Begleitsubstanzen können diese Aufgabe nur dann erfüllen, wenn keine anderen Moleküle am Strang "kleben". Mit anderen Worten: Fest verpackte Gene bleiben still.

Das Epigenom umfasst die Gesamtheit eines epigenetischen Regelwerks. Seine Hauptaufgabe liegt im Bereich der Zelldifferenzierung. Am Anfang der Embryonalentwicklung sind alle Zellen praktisch gleich, später dagegen werden ihnen spezifische Aufgaben zuteil. Eine Leberzelle produziert andere Botenstoffe als ein Neuron im Gehirn. Hautzellen sollten sich regelmäßig teilen, weiße Blutkörperchen besser nicht.

Epigenetische Schaltstellen

Doch alle verfügen über dieselbe DNA. Welche Gene darin tatsächlich aktiv werden und welche nicht, wird vor allem über epigenetische Schaltstellen gesteuert. Sie verhindern unkontrolliertes Wuchern oder unerwünschte Enzymschwemmen. "Man kann sich das Epigenom als Schutzmechanismus für mehrzellige Organismen gegen Krebs und Chaos vorstellen", sagt Christoph Bock, Forscher am Zentrum für Molekulare Medizin (CeMM) in Wien.

Überleben ist alles: Dieses Grundprinzip der Natur hat Spuren hinterlassen. Anpassungsfähigkeit scheint ein zentraler Faktor zu sein. Epigenetik ist ein Forschungsbereich in Aufbruchstimmung, die großen Zusammenhänge müssen erst entdeckt werden.
Illustration: Blagovesta Bakardjieva

Der zurzeit gängigen Hypothese nach dienen epigenetische Veränderungen aber auch der flexiblen Anpassung an unterschiedlichen Lebensbedingungen. Je nach Umständen würden dazu bestimmte Gene stärker aktiviert, andere mehr oder weniger zum Schweigen gebracht. Viele solcher Prägungen fänden ebenfalls im Mutterleib statt. Sie wären eine Vorabreaktion auf draußen vorherrschende Stressfaktoren, die der Nachwuchs später zu erwarten habe. Die erforderlichen Signale gelängen über das mütterliche Blut zum Fötus. In anderen Fällen sei bereits das Erbgut der elterlichen Geschlechtszellen epigenetisch modifiziert.

Der Faktor Angst

Diverse Tierversuche scheinen diese Annahmen zu bestätigen. Eines dieser interessanten Experimente führten Brian Dias und Kerry Ressler von der Emory University in Atlanta/USA durch. Die Wissenschafter ließen Mäuse Acetophenon, eine künstliche Kirschblütenessenz, schnuppern und traktierten sie gleichzeitig mit Stromstößen – eine klassische Angstkonditionierung. Die Tiere lernten, den Blütenduft zu fürchten. Sie zitterten schon, wenn sie ihn nur witterten. Später zeigte sich diese Reaktion auch bei ihren Nachkommen der ersten und zweiten Generation. Diese waren nie zuvor mit Acetophenon in Kontakt gekommen und hätten auch keine Elektroschocks bekommen.

Die Angst wurde anscheinend vererbt. Tatsächlich stießen die beiden Biologen in den Spermien von furchtsamen Mäuserichen auf epigenetische Veränderungen am Gen Olfr151, welches für die Wahrnehmung von Acetophenon zuständig ist. Der DNA-Abschnitt zeigte eine geringere Methylierung und dürfte verstärkt aktiv gewesen sein.

Auch nach der Geburt finden offensichtlich Modifikationen statt. Rattenmütter, die ihre Junge intensiv pflegen und häufig liebevoll abschlecken, bringen einen eher ruhigen, gelassenen Nachwuchs hervor. Zuwendung macht die Nager stressresistent. Ein kanadisch-britisches Forscherteam ist diesem Zusammenhang bereits 2004 auf den Grund gegangen.

Stresshormone reduzieren

Man fand epigenetische Optimierungen am GR-Gen, Träger des Codes für das Glucocorticoid-Rezeptor-Protein. Je mehr Glucocorticoid-Rezeptoren im Gehirn aktiv sind, desto schneller lassen sich Stresshormone reduzieren. Die mütterliche Fürsorge legt so die Basis für ein entspanntes Rattenleben.

Gelassenheit muss jedoch nicht immer von Vorteil sein, sagt Christoph Bock. Wenn die Nager intensiv von Raubtieren verfolgt werden, habe der Nervöse womöglich die besseren Überlebenschancen. Und gestresste Rattenweibchen kümmern sich zwar weniger intensiv um ihre Babys, sie gebären aber mehr Nachkommen. In schwierigen Zeiten mit hohen Verlusten zahlt sich das für eine Population aus. Weniger Investition in den Einzelnen, Masse statt Klasse. Das epigenetische Umschalten durch verstärkte oder verringerte Zuwendung wäre ein entscheidender Regelkreis.

Elmar Tobi steht der Anpassungstheorie gleichwohl kritisch gegenüber. Für kurzlebige Tierarten wie Ratten und Mäuse mag eine derartige Strategie sinnvoll sein, meint der Experte, aber beim Menschen? Welche Vorteile böten epigenetische Fixierungen, deren Auswirkungen über Jahrzehnte hinweg spürbar blieben, während sich das Lebensumfeld sehr wahrscheinlich verändert? Zu schnell könnten sich die Festlegungen dann als Bürde erweisen.

Dicke Seelen

Entsprechende Probleme haben Tobi und seine Kollegen bei der Hungerwinterkohorte beobachtet. Diese Personen tragen ein statistisch erhöhtes Risiko für Übergewicht, Diabetes und Schizophrenie. Epigenetische Umstellungen in ihrem Stoffwechsel dürften der Grund sein. Auf der Suche nach den möglichen Schaltpunkten haben die Forscher vor einigen Jahren mit systematischen Analysen begonnen. Sie verglichen bestimmte Teile des Epigenoms von den Hungerwinterkindern mit den gleichen Arealen bei deren Geschwistern.

"Schon beim ersten untersuchten Gen, IGF-2, landeten wir einen Volltreffer", berichtet Tobi. Das Produkt von IGF-2 ist ein Wachstumshormon, welches vor allen bei der Embryonalentwicklung eine zentrale Rolle spielt. Im Erbgut der Hungerexponierten ist das Gen epigenetisch weniger stark gebunden als normal. Weitere Unterschiede finden sich unter anderem im Bereich des Wachstumsgens INSR und bei CPT1A. Letzteres ist für den Cholesterinhaushalt von Bedeutung.

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe Hinweise auf mögliche schädliche Auswirkungen von Frühprägung bei Menschen, auch im seelischen Bereich. Epidemiologische Untersuchungen, erklärt Christoph Bock, zeigen eine Korrelation zwischen intensiver psychischer Belastung von schwangeren Frauen und einer größeren späteren Stressanfälligkeit ihrer Kinder auf. Traumata könnten so weitergereicht werden.

Wissenschaftliche Beweise fehlen

Ob dieser Effekt allerdings das Ergebnis einer epigenetischen Programmierung ist, sei umstritten. Die Qualität der bislang veröffentlichten Studien lasse sehr zu wünschen übrig, meint Bock. Andere Faktoren würden nicht ausreichend berücksichtigt, wissenschaftlich tragfähige Beweise für einen kausalen Zusammenhang fehlen.

Manche Experten, darunter auch Elmar Tobi, ziehen deshalb eine andere Erklärung in Betracht. Vielleicht entstehen epigenetische Merkmale auch durch Ausleseprozesse im Verlauf der Embryogenese. Anfangs besteht das heranwachsende Geschöpf lediglich aus einer Ansammlung von Zellen, den Blastozysten. Die epigenetische Prägung geht darin nicht gleichmäßig vonstatten. Ein Gen X könnte also in einem Teil der Zellen aktiviert sein, in anderen nicht. Der Unterschied entscheidet womöglich über Leben und Tod. Zellen ohne Genprodukt X sterben ab, die anderen teilen sich weiter und übertragen ihre frei ablesbare DNA auf die Tochterzellen, bis praktisch der gesamte Embryo so ausgestattet ist.

Epigenetik als Zeugnis eines pränatalen Selektionsdrucks. So weit die Theorie. Im Falle der Hungerwinter-Babys könnten verschiedene physiologische Signale die Veränderungen eingeleitet haben, sagt Elmar Tobi. Die darbenden Mütter zehrten ihre Muskeln auf. Bei einem solchen Abbau werden unter anderem Ketone ins Blut freigesetzt – eine eher ungesunde Zugabe.

Robuste Natur

Wichtig sei auch der Zeitpunkt des mutmaßlichen Hungereinflusses. Während der ersten drei Schwangerschaftsmonate wirkte sich der Mangel offenbar nicht negativ auf das Embryonalwachstum aus. Die Säuglinge hatten ein normales Geburtsgewicht. Waren die Kleinen dagegen im letzten Trimester dem Mangel ausgesetzt, kamen sie untergewichtig zur Welt. Dennoch: "Was uns überrascht, ist, wie robust die Hungerwinterkinder sind", betont Tobi. Die meisten von ihnen führten ein gutes Leben. Die besagten Gesundheitsprobleme traten meist erst ab 50 auf.

Noch wirft die Epigenetik zahllose Fragen auf, doch in der medizinischen Diagnostik kommt sie bereits zur praktischen Anwendung. Mit ihrer Hilfe lasse sich die Herkunft von Krebsmetastasen ermitteln, erklärt Christoph Bock. "Die DNA-Methylierung ist äußerst stabil." Die Tochterzelle eines Tumors trägt also stets die Signatur ihres Ursprungsgewebes, egal, wo sie sich später im Körper niederlässt. Bei manchen Krebsformen werden die Metastasen schneller entdeckt als der eigentliche Herd.

Dank der epigenetischen Methode sei es nun leichter, das Zentrum der Krankheit zu ermitteln. Die spezifische Prägung der Tumorzellen biete zudem potenzielle Möglichkeiten für die Entwicklung neuer Medikamente. Man kann ihre biochemischen Schwachstellen finden und anhand dieser Information nach Alternativen zur klassischen Chemotherapie suchen, so Bock. Das eröffnet Perspektiven. (Kurt de Swaaf, 25.12.2016)