Punkterichterinnen und -richter machen sich ein Bild – ein vollkommen objektives natürlich.

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Usain Bolts erster Triumph aus der Warte der Zeitnehmer – 10.000 Aufnahmen pro Sekunde machen sie sehr sicher.

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Von Ipanema nach Deodoro sind es viele Katzensprünge, es gibt kaum zwei Punkte in der Olympiastadt, die weiter auseinanderliegen. In Deodoro, wo geritten und geschossen und gepaddelt wurde und wird, sitzt Victoria Max-Theurer auf einer Tribüne und sieht sich das Dressur-Finale an. In Ipanema sitzt Alain Zobrist in der Casa de Cultura, quasi erste Reihe zum berühmten Strand, und schaut auf die Uhr.

Das Finale war für Max-Theurer unerreichbar, sie hatte als 33. vorzeitig absatteln müssen. Die 30-Jährige, die zum vierten Mal an Olympia teilnahm, hatte ein relativ neues, unerfahrenes Pferd unter sich, sie ist mit der Stute Della Cavalleria, kurz Della, nicht wirklich eingespielt. Della war kurzfristig für Blind Date eingesprungen, da die Stutenkollegin das obligatorische Olympiafutter nicht vertrug.

Grund zur Diskussion

Max-Theurer ist es gewohnt, bewertet zu werden. Ihre Sportart unterscheidet sich grundlegend von jenen, in denen bis auf Millimeter oder Tausendstelsekunden genau gemessen wird. "Überall, wo Menschen richten", sagt sie, "gibt es Grund zur Diskussion. Manchmal glaubt man, dass man zu schlecht bewertet wurde, aber manchmal wird man auch besser eingeschätzt, als man gedacht hätte." In Erinnerung bleiben eher die schlechten Noten, das ist im Sport nicht anders als in der Schule. Max-Theurer: "Damit muss man zurechtkommen. Aber da geht es Fußballern, wenn ein ungerechtfertigter Elfmeter gepfiffen wird, nicht anders."

Alain Zobrist fängt mit Sportarten wie dem Dressurreiten nicht allzu viel an. Sein Geschäft ist schließlich das Messen. Der 33-jährige Schweizer trägt den Titel CEO Omega Timing, Omega ist der offizielle Olympia-Zeitmesser und hat die Casa Cultura in Ipanema für die Spiele in ein eigenes Haus verwandelt – in das Omega House, mit diversen Ausstellungsräumen.

Über den Lauf der Zeit sagt Zobrist: "1932 ist ein Schweizer Uhrmacher mit dreißig Chronografen nach Los Angeles gereist. Mit dem Boot über den Atlantik, dann mit dem Zug durch ganz Amerika. Und heute wird eigentlich nichts mehr mit Stoppuhren gemacht, alles funktioniert elektronisch, vollautomatisiert." In Rio misst Omega zum 27. Mal olympisch, 480 Mitarbeiter sind vor Ort, 850 brasilianische Freiwillige kommen dazu. Das eingesetzte Omega-Material wiegt 450 Tonnen, mehr als 200 Kabelkilometer wurden verlegt.

Gerichtet

In der Dressur spielen Meter und Sekunden keine Rolle. Bewertet werden einzelne Schwierigkeiten wie etwa das Piaffieren, quasi Traben auf der Stelle, oder das Rückwärtsrichten, das Max-Theurer mit Della einige Mühe bereitet hat. "Danach musste ich sie ein zweites Mal fragen", sagte die Reiterin, und dieses Nachfragen blieb den Juroren natürlich nicht verborgen. Auch dass diese sich zuvor kaum ein Bild von Della machen konnten, spielte eine gewisse Rolle. "Wir haben uns noch nicht etabliert", sagt Max-Theurer. Im Dressurreiten wie im Wasserspringen und Synchronschwimmen – oder winters im Eiskunstlaufen – muss man sich hochdienen. No-Names haben bei Großevents von vornherein kaum Chancen.

In Rio konnten sich Österreichs Synchronschwimmerinnen nicht über die Punkterichter beklagen, die Schwestern Anna-Maria und Eirini-Marina Alexandri schafften als Zwölfte knapp, aber verdient den Finaleinzug. Die Brasilianerinnen Borges/Micucci schieden als 13. aus, der Heimvorteil schlug sich leicht, aber nicht ausschlaggebend in der Benotung nieder. 2000 in Sydney konnten die Turmspringerinnen Anja Richter und Marion Reiff ein anderes, trauriges Lied vom Heimvorteil singen. Sie sprangen klar besser, wurden aber hinter die Australierinnen Gilmore/Tourky auf Rang vier heruntergetragen.

Annahme und Anmaßung

"Natürlich ärgert man sich manchmal", sagt Max-Theurer, "das gehört dazu. Da geht's mir nicht anders als den Fußballern. Aber manchmal gibt es auch nicht die eine, die richtige Lösung. Manchmal kann man es so oder so sehen." Sie wolle nicht tauschen. "Ich würde mir nicht anmaßen, zu glauben, dass ich immer richtig liege." Das unterscheidet Max-Theurer von den Zeitmessern. Alain Zobrist erzählt, dass in Rio in der Leichtathletik ein neues Instrument zum Einsatz kommt. Die Scan'O' Vision-Fotofinish-Kamera macht 10.000 Aufnahmen pro Sekunde. Zehntausend. Aufnahmen. Pro. Sekunde.

Das IOC und Omega sind bis 2020 aneinander gebunden, mehr will Zobrist nicht über den Vertrag verraten, der wohl verlängert wird, weil beide Seiten daran Interesse haben müssen. Für Omega ist Olympia keine schlechte Werbebühne, und das IOC hat einen Partner, auf den es sich verlassen kann. Schließlich liefert die Schweizer Firma nicht nur Daten, sondern formatiert und verwaltet diese auch.

Während weit draußen in Deodoro der Dressurbewerb zu Ende geht und Max-Theurer die Titelverteidigung der Britin Charlotte Dujardin mitverfolgt, kommt Alain Zobrist in Ipanema noch auf eine Besonderheit zu sprechen, den Fehlstart in der Leichtathletik. Bei der Ermittlung der Reaktionszeit helfen Sensoren in den Startblöcken, und reagiert eine Läuferin oder ein Läufer flotter als binnen 0,1 Sekunden auf das Startsignal, so wird sie oder er disqualifiziert. "Studien belegen", sagt Zobrist, "dass kein Mensch so schnell reagieren kann."

Wird also früher losgelaufen, so wurde antizipiert. Dass ein Start 0,05 Sekunden nach dem Startschuss de facto kein Frühstart ist, könnte man natürlich meinen. Doch auf eine Diskussion dieser Art lassen sich die Nehmer der Zeit nicht ein. Denn Meinungen sind Meinungen, und Regeln sind Regeln. (Fritz Neumann, 16.8.2016)