Ein Stückerl Narrenfreiheit in den ersten 100 Tagen? So kommod war es vielleicht gestern. Manchmal. In Politik und Wirtschaft neu in Führungsfunktion zu stehen geschieht jetzt ohne sanfte Einarbeitungsfristen.
Und die Erwartungen sind hoch, oft nicht eindeutig und oft auch unausgesprochen. Und das vor dem Hintergrund durcheinandergewirbelter Unternehmenskulturen, die verletzt und erschöpft sind von ständiger Prozessoptimierung, Produktionsverlagerungen, von Umstrukturierungen, Einsparungen, vom Ringen um die Digitalisierung und von den Anstrengungen, das Geschäftsmodell zu adaptieren. Mit der Generation Y und Z sind andere Ansprüche in Teams eingezogen, neue Widerstände sind gewachsen. Gleichzeitig werden neue Führungsmodelle ausprobiert. Welten und Werte prallen aufeinander.
Zwischen Menschen
Das Feld für Frauen und Männer, die frischgebacken in Führungspositionen kommen, ist also auf jeder Ebene der Organisation recht unübersichtlich. Darunter und darüber wirkten gesellschaftlicher Paradigmenwechsel und Bedrohungsszenarien ein.
Als wäre das noch nicht genug, herrschen in jeder Organisation auch bestimmte Codes, werden in jedem Unternehmen zudem bestimmte Spiele gespielt. Leider ohne Regelbüchlein für die Neuen. "Führungseinsteiger werden bewusst oder unbewusst mit den Corporate Codes konfrontiert – codiert in Sprache oder als Ausdruck einer kulturellen Verhaltensweise", sagt Councelor Susanna Wieseneder, die sich in ihrem "Leader's Incubator" mit dem Dechiffrieren befasst.
Wo also zuerst hinschauen? Als Extrakt aus den verschiedensten Kulturdiagnosemodellen formuliert Wieseneder fünf grundlegende Fragen:
- Wie wird man in diesem Unternehmen erfolgreich?
- Wer sind die wahren Meinungsmacher und Vorbilder jenseits oder hinter der Hierarchie in der Organisation – und warum?
- Was muss man tun, um die Organisation gegen sich aufzubringen?
- Welche "Corporate Mouthpieces" – Phrasen, Worte, Überschriften – werden verwendet?
- Wie und warum verlassen Mitarbeiter das Unternehmen?
Und dann ist das Ordnungsmuster ersichtlich und das Terrain gewonnen? Wo doch alles instabil und im Umbruch ist? "Das sind keine stabilen Raster" , konzediert Wieseneder, aber: Auf systemische Ordnungsmuster zurückzugreifen sei eine gute Orientierung, um Musterbewegungen zu sehen, soziale Interaktionen zu verstehen. Letztere könne man ruhig "Spiele" nennen.
Spiele im sozialen Umfeld des Büroalltags – mit vielen Variablen und damit einer Menge Fallen, die aufgestellt sind. Weil solche Spiele verdeckt gespielt würden, ohne klare Festlegung von Spielern, Spielort, klaren Regeln und dem möglichen Gewinn. Ein roter Faden lasse sich aber immer dechiffrieren, sagt Wieseneder, weil mit solchen Spielen immer Folgendes ausgehandelt werde:
- Wer gehört dazu?
- Hat höherer Einsatz Vorrang?
- Haben Kompetenz und Leistung Vorrang?
- Wie erfolgt der Ausgleich von Geben und Nehmen?
- Welche Rituale von Bitte/Danke und von Nein gelten?
Muss man hineintappen, um zu erkennen, was gespielt wird? Eben nicht, meint die Beraterin und rät zu Einübung ins Dechiffrieren:
· Einstiegsspiele: Hier wird der neue, unerfahrene Einsteiger ausgetestet und mit Themen konfrontiert, die schwer zu durchschauen sind. Zum Beispiel erhält der Neue Aufgaben, die leider nie gut genug erledigt werden, es kommen immer wieder neue Aufgaben hinzu. Dann wird der Neue quasi zu einem Labrador, der andauernd erschöpft versuchen muss, den Knochen zu bringen – alles andere übersieht er dabei. Die Spieler wollten so entweder Belastbarkeit testen, interpretiert Wieseneder, oder Bewältigungsfähigkeit, Wendigkeit, die Fähigkeit, einen Schritt innezuhalten und das Spiel umzudrehen. Und der Ausstieg? Strukturiert vorgehen und priorisieren.
Ein häufiges Testspiel für Neulinge sei, ihnen alle unangenehmen, liegengebliebenen Aufgaben zuzuweisen. Probleme lösen, die bisher keiner anfassen wollte. Eine Überforderung sei manchmal gewünscht, ganz im Sinne von: Prüfen wir doch mal, ob er oder sie wirklich so viel kann. Jetzt gilt es zwecks Ausstiegs aus diesem Spiel zu unterscheiden, welchen Problemen man sich tatsächlich widmet.
· Territorialspiele: Das sind Markierungsspiele, bei denen es um Grenzsetzung geht. Einsteiger bemerken die Grenzen erst, wenn sie diese verletzen. Was mit "Wir werden uns schon ausmachen, wer und was zu Ihrem Team gehört" beginnt, führt notgedrungen in solche Spiele. Klärung kann mittels territorialer Landkarten (möglichst rasch) erfolgen. Statusspiele gehören auch in diesen Bereich, wobei es nicht nur um Firmenwagen oder IT-Ausstattung geht, sondern auch um informellen Status. "Im Zuge der Auflösung alter hierarchischer Ordnungen und ihrer Symbole entstehen neue virtuelle, digitale Status-Codes." Geschwindigkeit etwa, Nähe und Zugang zur nächsten Ebene in Echtzeit. Hier gelte es, genau hinzuschauen, so der Rat, und festzustellen, wer Status innehabe und damit Allianzpartner oder Gegner sein könne.
· Chefspiele: Als beliebtes Spiel in diesem Bereich hat Wieseneder das "Familienspiel" identifiziert: den Bereich, die Firma, das Team, wie einen Clan zu führen. Der Neueinsteiger erhält eine Rolle zugewiesen oder wird in den Kampf geschickt, um diese zu erringen. Sportteam-Wettkämpfe würden dafür auch recht gern verwendet. Das Problem: Die zugewiesene Rolle ist schwer zu verändern, hat oft kaum Handlungsspielraum. Der Ausweg sei nur, ungewollte Rollen abzulehnen oder sich jenseits der Zuweisung eine eigene Rolle zu erarbeiten. (red, 27./28.08.2016)