Von der Spitze der Halbinsel Beara abheben und über die Gischt des Sunds hinüberschweben zu den ginstergelben Felsen von Dursey Island. So sieht ein Traum aus Möwenperspektive aus. Zu verwirklichen ist er bei einer Fahrt mit Irlands einziger Seilbahn.

Doch jetzt deutet rein gar nichts auf die Existenz einer Insel hin. In Rufweite zum Festland soll Dursey liegen, wenn aber ein sturer Nebel an Irlands südwestlichstem Zipfel klebt, verschluckt er alles Rufen. Und er raubt dem Land die Farben, versteckt ganze Inseln.

Irlands einzige Seilbahn verbindet die Halbinsel Beara mit Dursey Island im äußersten Südwesten des Landes. Praktisch alles muss mit ihr transportiert werden, weil die Strömungen im Atlantik für regelmäßigen Schiffs verkehr zu tückisch sind. Nur zwei Menschen leben ständig auf der fünfeinhalb Quadratkilometer großen Insel.
Foto: Thomas Schneider / bildbaendiger.de

Seilbahnführer Paddy Sheehan wundert sich nicht, dass Leute auch bei diesem Wetter hinüber wollen. "Nicht die Insel, Durseys Seilbahn ist die Attraktion." Paddy kennt seine Klientel. Er hat den Job von seinem Onkel James Sheehan übernommen, als der nach 18 Jahren aufhörte. Damals hatte Paddy noch gewettet, dass er selbst nie so lange durchhalten würde. Nun kann er bald sein 25-jähriges Dienstjubiläum feiern. Per Knopfdruck setzt er den Motor in Gang, und nach minutenlangem Starren auf die Nebelwand sind endlich die Konturen der Seilbahngondel zu erkennen. Gemächlich bremst die eckige, blau-weiße Büchse vor der Station ab.

Psalm 91 als Notfallplan

Wind rüttelt an der Kabine, die langsam durch das milchweiße Nichts gezogen wird. Frost und Schnee schaden der Anlage nicht, aber bei Windstärke acht könnte es die Gondel aus der Trosse heben, erklärt Paddy. Innen klebt eine Anleitung zur Notfallverhütung: ein Zettel mit dem Psalm 91 und der fürsorgliche Appell "Zum Schutz täglich lesen". Also gut: "Fallen auch tausend zu deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es doch dich nicht treffen …"

Mehr Ausnahmen als Regeln

Bis vor kurzem bestand die wohl größte Gefahr darin, während der Fahrt von einem Kalb oder Esel getreten zu werden, denn die Seilbahn wurde auch für Tiertransporte genutzt. Die Maximalbelegung war auf "sechs Personen oder eine Kuh" festgelegt. Wie viele Schafe oder andere Tiere rein durften, musste man mit Paddy aushandeln. Aus Sicherheits- und Hygienegründen hat die Grafschaft Cork Tiere in der Seilbahn mittlerweile verboten. Zwischen den Holzbänken steckt jedoch frisches Stroh. Schön, dass Irland noch immer mehr Ausnahmen als Regeln kennt.

Bei klarer Sicht taucht The Bull, ein Minieiland vor Dursey, wie aus dem Nichts auf.
Foto: wikicommons / Nigel Cox

Wie eine Geistererscheinung tauchen die Felsen von Dursey Island aus den Dunstschleiern auf. Neben dem Wartehäuschen für Seilbahngäste empfängt ein Schild Neuankömmlinge mit dem Rat: "Es gibt hier kein Wifi, redet miteinander." Dazu muss man Rosarie O’Neill gar nicht erst auffordern. Für Frauen wie sie wurde das Wort "patent" erdacht. Klein, rundlich, mit kräftigem Händedruck und der völligen Unfähigkeit, nichts zu tun. Eine Macherin, eine, die Träume in die Tat umsetzt. Zum Beispiel den Traum vom eigenen Cottage auf der Insel, auf der sie geboren wurde. Während sie mit ihrem Kastenwagen über die einzige Straße, eine grasbewachsene Piste, düst, erzählt sie im Singsang ihres entfernt ans Englische erinnernden Dialekts.

Das erste Haus seit 70 Jahren

Ihr Cottage war das erste Haus, das seit mehr als 70 Jahren wieder auf der Insel errichtet wurde. Das Baumaterial kam, na klar, mit der Seilbahn. Die Strömungen im Sund sind so tückisch und stark, dass es schwierig, oft sogar unmöglich ist, Dursey mit Booten zu erreichen. Für den Fassadenanstrich hat sie die Farbe von Eierlikör gewählt, bestens geeignet, um in nebeligen Gegenden nicht übersehen zu werden.

Nur zwei Menschen leben ständig auf Dursey, ein Dutzend weitere nutzen ihre Häuser bloß in den Ferien.
Foto: wikicommons / Nigel Cox

Dauerhaft auf Dursey leben kann Rosarie, die mit ihrem Mann noch ein Bed & Breakfast auf dem Festland betreibt, nicht. Deshalb teilt sie ihren Traum mit Reisenden, die zum Insulaner auf Zeit werden wollen – mit allen Konsequenzen. Nicht bloß, dass einen die Mobilfunknetze auf ganz Dursey nicht mehr fangen können. Es gibt weder Pubs noch Shops oder ein Restaurant. Die nächsten Einkaufs- und Vergnügungsstätten liegen im 24 Kilometer entfernten Castletownbere, und auch die Chance, auf Gesprächspartner zu treffen, ist gering. Nur zwei Menschen leben ständig auf Dursey, ein Dutzend weitere nutzen ihre Häuser bloß in den Ferien.

Erstzulassung vor 33 Jahren

In Irland kann man das Datum der Erstzulassung von den Nummernschildern ablesen. Durseys ältester Wagen röhrt demnach seit 33 Jahren durch die Dörfer. Von denen gibt es drei auf der Insel, drei Geisterdörfer: Ballynacallagh, Kilmichael und Tilickafinna. Die meisten Häuser wurden vor langer Zeit verlassen und dem Verfall preisgegeben. Alles was nicht Stein war, wurde von Sonne, Wind und Meer gefressen.

Fotos von Lebendigkeit

Gerahmte Fotos und Zeitungsausschnitte an den Wänden von Rosaries Cottage erzählen aber von Dörfern, die reich waren an Gemeinschaft, Glaube, Familienleben, an eigenen Liedern, Geschichten und Musik. Es sind Fotos der 1960er- und 70er-Jahre, der Zeit, als Rosarie hier aufwuchs. Frisch verheiratete Frauen mussten damals schon nicht mehr drei Mal von Ost nach West durch den engen Spalt im Felsen Needle’s Eye gehen, um dadurch den Tod im Kindbett zu verhindern, aber noch immer wurde im Krankheitsfall erst der Priester und anschließend der Doktor gerufen.

Neben den Überresten der St.-Mary-Abtei, die bei einer Piratenattacke zerstört wurde, liegt der marode Friedhof. An diesem Ort scheint selbst der Tod in die Jahre gekommen.
Foto: wikicommons / Killkenny

Ein Krankenhaus hatte Dursey nie, einen Friedhof schon. Der liegt zwischen den zerfallenen Mauern der St.-Mary-Abtei, die nach einer Piratenattacke schon seit mehr als 400 Jahren als Ruine dasteht. Schwer liegt die Last der Jahrzehnte auch auf den verwitterten Grabsteinen und Keltenkreuzen. Alle von Wind und Wetter geschliffen, halbgeneigt oder umgefallen. An diesem Ort ist selbst der Tod in die Jahre gekommen. Nicht beerdigt werden konnten die Menschen, die im Jahr 1602 von britischen Truppen niedergemetzelt und über die Klippen gestoßen wurden, weil sie irische Rebellen versteckt hatten. Keiner der damals 300 Bewohner von Dursey hat überlebt.

Nur die wenigsten Besucher nehmen Durseys Trampelpfade unter ihre Füße, weil sie von der Chance wissen, Wale, Delfine oder sogar die gigantischen, aber harmlosen Riesenhaie zu sichten.
Foto: wikicommons / Sebastian Wallroth

Der Nebelvorhang öffnet sich zu einem breiten Sichtstreifen und zeigt die vorgelagerte Bull Island im Cinemascope-Format. Hier, am Dursey Head, ist Schluss mit Europa. Der Blick taumelt über phosphoreszierend helles Gras, über das weite Aquarell des Atlantiks und findet erst Halt am silbrigen Faden des Horizonts. Sonnentage wie dieser sind Touristentage, an denen Paddy Sheehan Buch führen muss, um den Überblick über die Passagierzahlen zu behalten und nicht mehr Leute auf die Insel zu schicken, als er innerhalb seiner Arbeitszeit wieder zurückholen kann. Nur die wenigsten Besucher nehmen Durseys Trampelpfade unter ihre Füße, weil sie von der Chance wissen, Wale, Delfine oder sogar die gigantischen, aber harmlosen Riesenhaie zu sichten.

Alles da für den Weltstillstand

Die meisten Reisenden fahren nach kurzem Aufenthalt wieder zurück auf das Festland. Sie lassen sich die Rufe der Austernfischer entgehen, die immer ein wenig empört klingen, und sie werden auch nicht erleben, wie Dursey Island in der Nacht einfach verstummt. Nur das Raunen des Atlantiks und das Summen des allgegenwärtigen Windes bleiben. Geräusche, die einen in die Zeit vor allen Zivilisationen horchen lassen. Das größte Ereignis aber ist nicht die Ereignislosigkeit, sondern die Erfahrung, dass es einem an nichts fehlt auf dieser Weltstillstandsinsel. (Nicole Quint, 28.8.2016)