Ödön von Horváths "Niemand" am Theater in der Josefstadt.

Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Wien – Die Tragödie Niemand (1924) zeigt Ödön von Horváth, den nachmaligen Anwalt der kleinen, unbeholfenen Leute, noch in den Kinderschuhen. Das Treppenhaus einer Zinskaserne bildet die Begegnungszone für allerlei Erniedrigte und Beleidigte. Alle Figuren, 24 an der Zahl, drückt die nämliche Sorge. Die Wirtschaftskrise presst aus dem Humankapital die letzten Reste Anstand heraus.

Den Figuren wird ohne Unterschied schlimm mitgespielt. Wer, wie der fußlahme Hausbesitzer Fürchtegott Lehmann, Güter und Geld besitzt, kann sie doch nicht zu seiner Zufriedenheit verwerten. Im Wiener Josefstadt-Theater wurde Niemand jetzt gleichsam kommentarlos zur Uraufführung gebracht. Man möchte ausrufen: Gott sei Dank. Und doch muss gerade jeder Appell an eine göttliche Instanz wirkungslos verhallen. Gott ist in Horváths verschollen geglaubter Fingerübung für das Unglück der kleinen Leute nicht mehr belangbar.

JosefstadtTheater

Wenn Lehmann (Florian Teichtmeister) auf seinen beiden Gehstöcken doch noch auf den Schöpfer zu sprechen kommt, dann nur noch im Ton verschämter Kränkung. Wie ein Gespenst irrt der junge Mann auf der Galerie seines Stockwerks herum. Er meint, Gott habe sein verwachsenes Elend schallend ausgelacht.

Die verhinderte Nachwuchsprostituierte Ursula (Gerti Drassl) staunt ihren Bräutigam in spe fassungslos an. Sie besetzt in Herbert Föttingers kluger, keuscher Uraufführungsinszenierung die Position des Horváth-Fräuleins. Sie ist die Vorwegnahme von Karoline, von Marianne und wie sie alle später heißen werden. Ihr heißes Herz verbirgt sie unter einem Panzer aus Gleichmut. Das weiße Brautkleid trägt sie wie eine besonders würdelose Verkleidung. Bürgerlicher Mummenschanz, der nicht das Geringste besagt.

Nicht immer ist es schlüssig erklärbar, was Horváth mit den sieben Bildern von Niemand überhaupt ausdrücken wollte. Eine kahle, in Beton gegossene Treppenspindel (Ausstattung: Walter Vogelweider) dreht sich auf der kahlen Bühne. Die Schauspieler treten in Stirnreihe an. Ein Geigenspieler und verkrachter Untermieter (Dominic Oley) spricht die ersten Szenenanweisungen.

Bibelmotive

Es gewinnt den Anschein, als ob ausgerechnet Bertolt Brecht dem jungen Horváth auf die Füße helfen soll. Weil den Personen – Huren, Zuhälter, Sargträger, bierdurstige Handwerker – durchwegs etwas Verhuschtes, etwas ordinär Gespenstisches eignet, halten die Schauspieler sich ihre Figuren in Armeslänge vom Leib. Gezeigt wird die Distanz, die uns Heutige von den 1920er-Jahren trennt, von den halbverdauten Bildungsbrocken, die Horváth, dem ungeübten Dramatiker, hochkommen. Nietzsche, Bibelmotive, Scherben von Kleist (Der zerbrochne Krug).

Den ältesten Bewohnern des Gespensterhauses läutet bereits das Totenglöckchen. Unsichtbare Särge werden von gut gepolsterten Bestattern nach draußen getragen. Hinter einem Rollladen verbirgt sich zu ebener Erde eine Gastwirtschaft, deren grobschlächtiger Wirt seinerseits eine Art Gott ist, ein strafender Allmächtiger, der seine Kellnerinnen niederdrückt.

Eine Tür weiter haust die vor Selbstekel mürbe Hure "Gilda Amour" (Martina Stilp). Alle Figuren werden von ihren Begierden beherrscht. Der Zuhälter Wladimir (Roman Schmelzer) scheint einem Panoptikum entsprungen, doch seine Rohkraft können die Mitbewohner nicht entbehren.

Überstürzte Hochzeit

Nach Lehmanns überstürzter Hochzeit mit Ursula muss der Wucherer wieder hinauf in seine Zimmerflucht getragen werden. Wladimir, der fremde Tonkrüge zerbricht und das viele Bier, das er säuft, nicht bezahlen will, wirft sich den befrackten Lahmen wie ein Paket über die Schulter. Man hilft einander eben, wo man kann. Der junge Horváth glaubt nur nicht mehr an das Prinzip der Mildtätigkeit. Unterschiedslos zirkulieren in seinem Stück Menschen, Waren und Dienstleistungen. An der Unentrinnbarkeit der Verhältnisse ändert sich nichts.

Nur ausnahmsweise blitzt Horváths Begabung für das Bonmot auf, bildungsbürgerliche Sentenzen, die das Denken charakterisieren, weil sie haarscharf verfehlen, was sie beredt ausdrücken wollen. "Wer versteht den Zusammenhang?", fragt die Hure. "Es gibt kein Erbarmen." "Doch es gibt Wunder!" Da neigt sich das Stück schon seinem Ende entgegen.

Fürchtegotts Bruder namens Kaspar (Raphael von Bargen) tritt auf. Er hat sich am Erstgeborenen einst versündigt, indem er ihn schlug. Er pinkelt in aller Seelenruhe ins Stiegenhaus und nimmt Fürchtegott alles weg: die Braut, den Überlebenswillen.

Föttinger inszeniert dieses unbedingt reizvolle Fundstück als Ideensteinbruch. Er will nicht klüger sein als sein Schöpfer. Er stellt den Stoff aber in den Rahmen der Geschichte (Niemand enthält die Gärungsprozesse, die ohne Verzug in den Nationalsozialismus führen). Er hat ein episches Oratorium inszeniert – Welttheater, durch das die Blitze der Erkenntnis zucken. Eine in ihrer Selbstbescheidung wunderbare Leistung aller Beteiligten, zu Recht akklamiert. (Ronald Pohl, 2.9.2016)