Wenn nichts mehr über Jahre plan- und berechenbar ist, dann lohnt es, auf die Potenziale aller zu sehen, statt weiterhin starr einzuteilen, wer wen managen darf und wer gemanagt wird, schreibt RIchard Pircher in diesem Gastkommentar.

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Für ambitionierte Menschen besteht meist der einzige Weg, sich beruflich weiterzuentwickeln, über den Aufstieg in der Organisationspyramide. Deshalb sitzen in Managementpositionen auch Menschen mit unterschiedlichsten Motivationen: ein Mehr an Gestaltungsmöglichkeit, Geld, Macht. Die zentrale Frage aus Sicht der Organisation und auch und vor allem von deren Eigentümern und anderen Interessengruppen sollte deshalb lauten: Dominiert bei den Führungskräften die Ausrichtung auf das Unternehmensziel, oder werden Handlungen und Entscheidungen eher von Ego, Machtkämpfen, Eigennutz und Ängsten beeinflusst?

Die geschriebenen und ungeschriebenen Kriterien für Einstellungen und Beförderungen bestimmen, welches Management und damit welche Organisation man bekommt. Doch wer soll den Samen für eine neue Führungskultur säen? Sind es doch die Manager, die wiederum ihrerseits Mitarbeiter auswählen und befördern. In der Regel tun sie dies ja nach genau den Regeln, nach denen sie selbst einmal ausgewählt wurden.

Alte "Lähmschichten"

Die industrielle Logik des 19. und 20. Jahrhunderts unterscheidet im Wesentlichen nur zwei Typen von Menschen: jene, die intelligent und gebildet genug sind, um Arbeit gestalten und Anweisungen geben zu können, und jene, die Anweisungen befolgen. Für Erstere gelten darüber hinaus Aufstiegskriterien, die bestimmen, wie weit sie innerhalb der Führungskaste nach oben klettern dürfen. Gemanagt werden also immer jene, die scheinbar weniger intelligent und gebildet sind als der Manager der jeweiligen Ebene.

Diese Logik ist längst überholt, dennoch wird an ihr festgehalten, als gäbe es keine andere. Notwendige Fähigkeiten, um in einer volatilen und unvorhersehbaren Umwelt zu bestehen, können unentdeckt in allen Mitarbeitenden stecken. Die dicken hierarchischen "Lähmschichten" aus festgefahrenen Überzeugungen, Machtdenken und Überheblichkeit verhindern, dass diese Potenziale für das Unternehmen genutzt werden können.

Die Win-win-Situatuin

Es stellt sich also die Frage, wie es einer Organisation gelingen kann, die passenden Mitarbeiter anzuziehen und Strukturen und Kultur so zu entwickeln, dass die in der Organisation arbeitenden Menschen ihre Fähigkeiten frei entfalten und somit zum Unternehmenserfolg beitragen können.

Heute sind immer weniger Menschen bereit, Vorgegebenes einfach so zu akzeptieren, nur weil sie mit dem für ihre Tätigkeit gewährten Gehalt ihren Lebensunterhalt decken können. Wichtiger wird, dass das Ziel eines ist, zu dem man entschieden Ja sagen kann. Wenn Menschen spüren, dass sie an etwas mitarbeiten, das größer ist, wirkt sich das nicht nur auf sie selbst aus. Auch das Unternehmen hat einen Nutzen davon. Man arbeitet besser und freudiger, wenn man auch wirklich teilhaben will und den größeren Zusammenhang sieht. Man kann Menschen sehen, die Sitzungen mit einem Lächeln im Gesicht verlassen, weil wieder etwas erreicht wurde, das "uns weiterbringt".

Wenn Eigeninitiative sich lohnt

"Viele Unternehmen auf der Welt versuchen neuzeitliche Geschäfte in jahrhundertealten Strukturen abzuwickeln", sagt Vineet Nayar, Vice Chairman des erfolgreichen indischen IT-Unternehmens HCLT mit über 100.000 Mitarbeitern. Seine Schlussfolgerung aus dieser Feststellung war, dass jene Bereiche des Unternehmens, in denen die Wertschöpfung generiert wird, den Takt angeben müssen. Und dies geschieht definitiv nicht beim Management, sondern in den marktnahen Bereichen, wo produziert, verkauft und Dienstleistung erstellt wird. Mittlerweile verzichten zahlreiche Unternehmen gleich vollständig auf den, laut Gary Hamel, am wenigsten produktiven Bereich: das Management. Das heißt aber nicht, dass es keine Leadership mehr gäbe. Im Gegenteil, der Begriff wird in diesen Unternehmen eigentlich erst richtig mit Leben erfüllt: Jedermann und jedefrau können Leadership übernehmen, indem sie die sich eröffnenden Möglichkeiten ergreifen und Dinge vorantreiben. Der Eigeninitiative stehen keine hierarchischen oder Abteilungsbarrieren mehr entgegen. Im Sinne eines kulturellen Fits werden die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme und unternehmerisches Denken sogar erwartet.

Kann aber von allen Mitarbeitern Leadership-Initiative verlangt werden? Die Antwort ist Nein. Deshalb verwandelt sich die Führungsaufgabe der – auch in Unternehmen ohne klassisches Management weiterhin notwendigen – Geschäftsführung radikal. Sie besteht vor allem darin, die Organisation derart zu gestalten, dass die Mitarbeitenden unterschiedliche Grade an Komplexität und Unsicherheit nach ihren Fähigkeiten bewältigen können. So kann etwa die Produktion noch überwiegend nach industriellem Muster mit Anordnung und Kontrolle ablaufen. Wer aber genug Mut verspürt, bewirbt sich vielleicht für eine Moderatorenrolle oder für Personalverantwortung, unabhängig von Alter, Geschlecht und Ausbildung – einfach "nur" aufgrund von Initiative und vorhandener oder sich aufbauender Kompetenz. Solche Möglichkeiten stehen in vielen dieser Organisationen allen offen, denn es profitieren beide davon, dass jemand sich entwickeln und hin zu einer besser geeigneten Rolle bewegen kann: die Menschen und das Unternehmen.

Keine Effizienztools

Aber Vorsicht! Hinter diesen immer bekannter werdenden Selbstorganisationsansätzen unter Schlagwörtern wie Agile, Scrum, Holacracy und Reinventing Organizations steckt etwas anderes als einfach nur das nächste Tool, um wieder ein wenig an der Effizienzschraube zu drehen. Denn sie funktionieren nur dann wirklich, wenn auch die Bereitschaft zu einem grundlegenden Bewusstseinswandel vorhanden ist – vor allem bei den Führungskräften. Loslassen können und wollen ist hier die Devise. So sagt der Geschäftsführer eines Industriebetriebes mit jetzt partizipativer Organisationsstruktur: "Früher dachte ich, dass ich eigentlich alles besser könnte als meine Mitarbeiter. Jetzt weiß ich, dass die Entscheidungen besser werden, wenn alle ihr Know-how einbringen können."

Es bedarf einer Organisation, in der sich möglichst viele ihrer Mitglieder auf einen gemeinsamen Seinszweck hin ausrichten. So können sie zu Sensoren für die vielleicht noch schwachen Signale einer sich anbahnenden Zukunft werden.