Unsere Bildungsprozesse zielen auf Beherrschen und Kontrollieren, sagt Soziologe Hartmut Rosa. Er hält ein Ideal von Schule dagegen, das Resonanz fördert und Fehler verzeiht.

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"Ein Unterschied ums Ganze": Soziologe Hartmut Rosa.

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In seinem neuen Buch "Resonanz" plädiert der deutsche Soziologe Hartmut Rosa für eine Weltbeziehung abseits von Wettbewerbsdenken und Steigerungslogik. Dafür brauche es Bildungsprozesse, die auf Weltveränderung abzielen anstatt auf Weltbeherrschung. Eine Schule, die sich selbst auf die Vermittlung verwertbarer Kompetenzen reduziert, nehme ihre wichtigste Funktion nicht wahr, sagt Rosa: Die sei es, für Kinder und Jugendliche auch jene Inhalte und Gegenstände "zum Sprechen" zu bringen, deren Wert sich nicht sofort offenbart. Ein Interview zum Schulanfang.

STANDARD: Von der Schule wird heute gerne gefordert, dass sie Kompetenzen fürs Leben vermitteln soll. Sie plädieren für eine Pädagogik, die nicht primär auf den Erwerb von verwertbarem Wissen abzielt. Warum?

Hartmut Rosa: In Deutschland hat letztes Jahr eine Schülerin öffentlich beklagt, dass sie ein Gedicht in vier Sprachen analysieren kann, aber keine Ahnung von Mieten und Versicherung hat. Die darauf einsetzende Debatte hat gezeigt, worum es heute geht: dass man in der Schule Kompetenzen ausbildet, um sich in der Welt zurechtzufinden. Dagegen zielt Resonanzpädagogik, wie ich sie nenne, darauf ab, dass Menschen mit einem Weltausschnitt, etwa mit Gedichten, Geschichte oder Biologie, so in Berührung kommen, dass der Gegenstand sie verwandelt und öffnet. Dass ein Gegenstand sie in die Lage versetzt, andere Menschen zu hören und auf sie zu reagieren. Das ist eine Voraussetzung, die wir im sozialen Leben brauchen. Wenn Menschen etwa in sozialen Medien immer gleich aufeinander eindreschen, dann wollen sie das Gegenüber eigentlich stumm machen. Der andere wird nicht mehr gehört, der Resonanzdraht verstummt.

STANDARD: Dinge wie Lyrik und Musik, die sich einer Verwertbarkeit gewissermaßen entziehen, verschwinden mehr und mehr aus den Lehrplänen. Sind das nicht genau die Fächer, die zu Resonanz befähigen, weil sie uns, wenn wir uns darauf einlassen, unendliche Glücksgefühle bescheren?

Rosa: Wenn diese Dinge aus den Lehrplänen fallen, verlieren wir die Fähigkeit, mit der Welt, also mit anderen und anderem, so in Kontakt zu treten, dass aus dieser Begegnung eine Verwandlung entsteht. Am Beispiel von Gedichten lässt sich die Differenz zwischen Resonanz und Kompetenz ja gut erläutern: Kompetenz ist es, Reimschema und Versmaß zu bestimmen, literarische Topoi, Bilder und Metaphern zu interpretieren. Sich von einem Gedicht bewegen zu lassen, davon erfasst und ergriffen zu werden, ist etwas völlig anderes. Wenn ein Gedicht das tut, fällt es uns nach dreißig Jahren noch ein. Weil wir es uns auf solch eine Weise angeeignet haben, dass dabei die Art, wie wir uns auf die Welt beziehen, verändert wurde. Ohne diese Fähigkeit gehen wir individuell und kulturell zugrunde.

STANDARD: Geht es Ihnen im Kern also um ein grundlegend anderes Verständnis von Bildung, das wir Kindern vermitteln sollten? Das nicht auf Weltbeherrschung, sondern auf Weltveränderung abzielt?

Rosa: In letzter Konsequenz würde ich das sagen. Ich finde, dass es einen Unterschied ums Ganze macht, darauf, wie ich mich zur Welt da draußen verhalte. Unsere Bildungsprozesse zielen auf Beherrschen, Kontrollieren und Verfügbarmachen ab. Das ist eine andere Form des Sichverhaltens zur Welt als Hören und Antworten. Dieses In-Beziehung-Treten wäre aber ein Schlüssel, um unsere ökologischen und politischen Probleme zu bearbeiten.

STANDARD: Wie kann Resonanzpädagogik denn dazu beitragen, dass Menschen von Inhalten berührt werden?

Rosa: Resonanz ist eine aktive Bezugnahme entweder zu anderen Menschen – in der Schule zu Lehrern und Mitschülern – oder zu Dingen und Inhalten, etwa zum Lehrstoff. Resonanzpädagogik zielt nicht auf den Erwerb von Kompetenzen ab, sondern darauf, dass sich die beteiligten Menschen und Dinge wechselseitig "zum Sprechen" bringen. In der Schule müssen die Kinder so von Mathematik, Biologie oder Lyrik berührt werden, dass sie eine aktive Beziehung dazu eingehen und dabei Selbstwirksamkeit erfahren. Sie müssen also merken, dass sie der Unterrichtsstoff etwas angeht, dass er ihnen etwas zu sagen hat. Und dass sie den Unterrichtsgegenstand selbst mitformen.

STANDARD: Was verhindert Resonanzverhältnisse in der Schule?

Rosa: Resonanz in der Schule ist dadurch gefährdet, dass Kinder und Jugendliche ganz bestimmte Dinge lernen und können müssen. Das führt zu einem Unterricht, in dem strikt zwischen richtig und falsch unterschieden wird. Der Lehrer stellt eine Frage und will die richtige Antwort hören. In so einem Unterricht, der immer etwas mit Eintrichtern und Abrichten zu tun hat, wird die Stimme des Kindes weder gefragt noch gesucht. Dieser Unterricht zielt nicht darauf ab, dass die Kinder eine eigene Position und ein Verhältnis zum Gegenstand entwickeln, sondern dass sie "das Richtige" können.

STANDARD: Dazu gibt es seit längerem einen Gegentrend: Da sollen Schüler selbst entscheiden, was sie wann interessiert. Besser?

Rosa: In dieser Idee fungiert die Lehrerin oder der Lehrer nur mehr als Mediator, falls die Schüler Hilfe brauchen, ansonsten dürfen diese frei entscheiden, was sie wie ausprobieren. Ich glaube, dass auch das Resonanzverhältnisse verhindert. Denn eine Sache beginnt nicht von sich aus zu uns zu sprechen. Nehmen Sie ein Kind, das zum ersten Mal vor einer Geige steht. Es zupft vielleicht ein wenig daran herum und hat ansonsten das Gefühl: Das sagt mir nichts. Auch eine physikalische Formel oder ein Gedicht sagen einem Kind zunächst nichts. Es ist Aufgabe des Lehrers, diese Dinge zum Klingen zu bringen. Sie müssen Kindern vermitteln: Das kann für dich interessant werden. Wenn Schüler selbst entscheiden, wann sie was tun, dann bleiben sie bei dem, was sie immer tun.

STANDARD: Was halten Sie in diesem Zusammenhang von Noten?

Rosa: Ich würde sie nicht aus der Schule verbannen. Denn vor der Bereitschaft, sich auf etwas einzulassen, kommt oft ein Moment des Schiebens. Der Wert mancher sozialer Praxen leuchtet einem erst ein, wenn man sich länger darauf eingelassen hat. Geige spielen wäre wieder mein bildungsbürgerlich geprägtes Beispiel. So ist es aber auch mit Gedichten und physikalischen Formeln. Die Schule sollte einen Rahmen schaffen, der es ermöglicht, sich vertrauensvoll und mit der nötigen Offenheit auf eine Sache einzulassen, die ihre Resonanzqualität erst langfristig enthüllt.

STANDARD: Beim Versinken in eine Sache spielt Selbstvergessenheit eine Rolle. Lässt sich die strukturell in der Schule verankern?

Rosa: Wenn man sich von einer Sache berühren und verwandeln lassen will, gehört dazu ein Moment von Kontroll- und Autonomieverlust. In dem Moment, wo ich mich von einer Sache wirklich erreichen und bewegen lasse, werde ich verletzlich. Die Schule müsste ein Raum sein oder einen Raum herstellen, wo Kinder sich angstfrei öffnen können. Die Voraussetzung dafür ist Vertrauen zu Lehrpersonal und Mitschülern. Je mehr Schule aber Angst und Druck erzeugt, umso schwieriger wird es, das zu realisieren.

STANDARD: Was wäre also zu tun?

Rosa: Wichtig ist vor allem die Erwartung, mit denen Schüler und Lehrer in die Schule gehen. Kinder und Jugendliche erleben die Schule häufig als Zone der Entfremdung. Sie gehen hin mit der Erwartung, dass jetzt langweiliges Zeug kommt, dass sie Dinge können müssen und unter Druck gesetzt werden. Das führt dazu, dass sie keine Lust auf Mathematik und Geografie haben. Im schlimmsten Fall glauben sie, dass sie nichts können. Das ist die tote Achse in der Stoffdimension. Das wird verschärft, wenn Heranwachsende das Gefühl haben: Die Lehrer und Mitschüler sehen mich nicht, sie mögen mich nicht, es macht keinen Unterschied für sie, ob ich da bin oder nicht. Dann ist die Schule eine Zone, wo einen nichts mehr berührt oder erreicht. Umgekehrt sagen viele Lehrer: "Ich erreiche die Kinder einfach nicht. Ich komme in den Unterricht, und es ist eine einzige Kampfzone." Da ist der Resonanzdraht verstummt. Die Erwartungshaltung auf beiden Seiten muss sich ändern. Schule sollte zu einem Raum werden, in dem die Erwartung entsteht, dass das, was dort passiert, interessant ist, dass es einen bewegt, dass es einem etwas zu sagen hat.

STANDARD: Gerade Jugendliche sind allerdings oft in einer Art permanentem Entfremdungszustand und stark an Gleichaltrigen orientiert. Kann Schule sie in dieser Phase überhaupt richtig erreichen?

Rosa: Eine gewisse Entfremdungserfahrung gehört zur Pubertät. Viele Jugendliche wollen sich von Eltern und Lehrern gar nichts sagen lassen. Das ist aber ein vorübergehender Zustand. Gleichzeitig bildet sich eine große Bereitschaft aus, sich von etwas berühren zu lassen. Jugendliche sind eigentlich auf der Suche nach etwas, das sie etwas angeht. Dass sie das in der Schule nicht finden, ist eine gewisse Tragödie. (Lisa Mayr, 3.9.2016)