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Tunesiens Präsident Beji Caid Essebsi mit US-Außenminister John Kerry am Mittwoch in New York. Der tunesische Menschenrechtler Abdessattar Ben Moussa fordert im Kampf gegen die ökonomische Krise im Land internationale Solidarität.

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In Youssef Chahed, den neuen Premier Tunesiens (links), und sein Regierungsteam setzt Ben Moussa große Hoffnungen.

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Tunesien hat die Aufstände des Arabischen Frühlings überstanden – ohne in Chaos und Krieg zu versinken wie zahlreiche andere Staaten der Region. Die wirtschaftlichen Probleme bleiben jedoch eine Herausforderung: Der tunesische Friedensnobelpreisträger und Menschenrechtler Abdessattar Ben Moussa hat aber Hoffnung, dass die neue Regierung dieses Problem in den Griff bekommen kann. Zugleich fordert er im Gespräch mit dem STANDARD internationale Solidarität, um die tunesische Wirtschaft wieder zu beleben.

STANDARD: Ende Juli gab es ein Misstrauensvotum gegen Premier Habib Essid, nun ist eine Regierung der "Nationalen Einheit" an der Macht. Was sind Ihre Erwartungen an diese?

Ben Moussa: Wir alle erwarten, dass die neue Regierung Gesetz und Ordnung walten lässt, ohne Unterdrückung, dass sie also Demokratie in ihren verschiedenen Facetten zulässt. Das Recht auf Streik und das Recht auf Versammlungen müssen respektiert werden, solange diese friedlich sind. Ich glaube, dass es dieser neuen Regierung gelingen kann: Der neue Ministerpräsident (Youssef Chahed, Anm.) ist relativ jung, Teil der Regierung sind auch sechs Frauen. Ich habe Hoffnung, dass es gelingt, Beschlüsse zu fassen, um Gesetze durchsetzen zu können und vor allem Korruption zu bekämpfen.

STANDARD: Wie demokratisch ist der Austausch der Regierung verlaufen?

Ben Moussa: Der Prozess war demokratisch und stimmte mit der Verfassung überein. Der ehemalige Premier war eine Persönlichkeit, die Tunesien auch gut hätte leiten können. Aber es gab Schwierigkeiten mit einigen Ministern, es gelang der Regierung nicht, in kurzer Zeit die Arbeitslosigkeit zu verringern. Es ist aber wichtig, Verantwortung weiterzugeben, und gerade im Regierungsbereich rotieren diese Verantwortungen.

STANDARD: Die Arbeitslosenrate ist im vergangenen Jahr stetig angestiegen und liegt bei mehr als 15 Prozent – unter jungen Menschen ist sie besonders hoch. Wie kann man die ökonomische Krise im Land bekämpfen?

Ben Moussa: Was wir jetzt brauchen, ist mehr Engagement des Privatsektors, das funktioniert aber nur durch Investitionen. Investitionen wiederum erreichen Tunesien nur, wenn sozialer Friede herrscht. Investitionen bleiben aus, wenn jeden Tag Kundgebungen oder Terroranschläge stattfinden oder wenn am Frieden, an der Sicherheit im Land gezweifelt wird. Letztlich führte dies auch dazu, dass nicht nur ausländische, sondern auch tunesische Investoren fernblieben, denen das Klima schlichtweg zu unsicher war.

STANDARD: Sehen Sie hier positive Signale?

Ben Moussa: Seit fast einem Jahr hat es in Tunesien keinen Terroranschlag mehr gegeben, das heißt, das Land wird sicher. Um die Investoren zu überzeugen, zurückzukommen, brauchen wir internationale Solidarität. Jeder Staat für sich muss Investoren die Sicherheit geben, wieder nach Tunesien zurückzukehren, aber auch seinen Bürgern die Sicherheit geben, wieder nach Tunesien reisen zu können, um die Tourismusbranche wieder zu beleben. Nur so wird es uns auch gelingen, die Arbeitslosigkeit zu senken.

STANDARD: Treibt die ökonomische Frustration Junge in Richtung Radikalisierung?

Ben Moussa: Ich glaube, der Extremismus ist nicht so sehr das Problem, das uns durch die Arbeitslosigkeit droht. Das größere Problem sehe ich in der illegalen Migration – ganz einfach, weil viele im Land keine Arbeit finden und sich im Ausland bessere Chancen erhoffen. Dieser kleine Prozentsatz, der sich im Ausland terroristischen Organisationen angeschlossen hat – das waren meistens ehemalige Häftlinge, die mit Religion vorher nicht viel zu tun hatten, die auch nicht aufgrund ihres Glaubens nach Syrien gegangen sind, sondern weil sie dort Geld witterten. Ich möchte nicht sagen, dass die Gefahr gar nicht da ist – es ist vielleicht ein wirklich sehr kleiner Prozentsatz der Jugend, der sich dem Extremismus zuwendet, aber ich betrachte das nicht als große Gefahr.

STANDARD: Gemessen an der Bevölkerungszahl Tunesiens gibt es doch eine besonders hohe Anzahl an "Foreign Fighters". Wie geht die Regierung mit diesem Problem um?

Ben Moussa: Was jene anbelangt, die aus diesen Löchern des Terrorismus zurückkommen – es gibt Ermittlungen, Befragungen, Beobachtungen. Gibt es Beweise, dass sie für eine terroristische Gruppierung gekämpft haben, so werden sie im Rahmen der geltenden Gesetze bestraft. Die Strategie der Regierung ist proaktiv, sie ist erfolgreich. Es geschieht nur alles in kleinen Schritten. Es gibt zum Beispiel auch eine Reform der Lehrpläne in den Schulen: In den Büchern steht nun mehr vom respektvollen Umgang miteinander, von Toleranz und Menschenrechten – damit es terroristischen oder islamistischen Gruppierungen in Zukunft nicht gelingt, schon sehr junge Leute zu rekrutieren.

STANDARD: Durch das neue Antiterrorgesetz sowie die Verlängerung des Ausnahmezustands haben Sicherheitskräfte allerdings erweiterte Kompetenzen und mehr Macht erhalten. Menschenrechtsorganisationen üben Kritik am Verhalten der Polizei, werfen ihr Misshandlungen und Folter vor. Nimmt die Regierung Menschenrechtsverletzungen für den Kampf gegen den Terror in Kauf?

Ben Moussa: Der große Unterschied zu vorher ist, dass Folter nicht mehr Programm ist. Es gibt sie noch, das hat mit der alten Mentalität zu tun, es hat auch mit einer alten Kultur zu tun, weil es Folter in Tunesien jahrelang gegeben hat und sich nach wie vor dieselben Menschen in einzelnen Positionen befinden. Der Ausnahmezustand geht auf ein Dekret aus dem Jahr 1978 zurück, das mit der heutigen Verfassung nicht mehr übereinstimmt. Eigentlich ist es verfassungswidrig. Meine Menschenrechtsliga hat auch schon mehrmals gefordert, dass die Sicherheitsgesetze reformiert werden. Wir haben uns auch gegen das Antiterrorgesetz ausgesprochen, wie es jetzt umgesetzt wird, weil darin Paragrafen enthalten sind, die sich mit Menschenrechten, internationalen Abkommen oder der Verfassung nicht ganz vereinbaren lassen.

STANDARD: Passiert hier etwas vonseiten der Regierung?

Ben Moussa: Die Regierung selbst hat derzeit weder vor, das Antiterrorgesetz zu novellieren, noch das Dekret zum Ausnahmezustand abzuschaffen. Hier braucht es eine Kampagne der Zivilgesellschaft: Es ist notwendig, dass die Zivilgesellschaft Druck auf das Parlament ausübt. Im Parlament gibt es viele demokratische Kräfte, die der Zivilgesellschaft auch zur Seite stehen würden.

STANDARD: Was kann der Westen tun, um die demokratischen Bemühungen Tunesiens zu unterstützen?

Ben Moussa: Das große Problem ist die Kluft zwischen Arm und Reich und zwischen armen und reichen Ländern. Für viele Menschen wirkt es sehr verlockend, ins Ausland zu gehen. Wir brauchen internationale Solidarität – nicht nur in Form von Versprechen, sondern auch in Form von wirklichen Taten und Umsetzungen. Sehr viele Staaten folgen einfach nur ihren eigenen Interessen – dieses sehr brutale liberale System müssen wir ändern. Es führt letztendlich nur dazu, dass reiche Länder arme Länder ausbeuten. Durch Grenzziehungen und die Einschränkung der Reisefreiheit wird den Menschen nicht geholfen, ganz im Gegenteil, das führt nur noch mehr zu Frustration und neuen Problemen. (Noura Maan, 24.9.2016)