Bundeskanzler Christian Kern warb in New York für ein gemeinsames Vorgehen in der Flüchtlingspolitik.

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STANDARD: Was nehmen Sie von der Uno-Generalversammlung in New York für den Flüchtlings- und Migrationsgipfel in Wien mit?

Kern: Dass Europas Problem mit Flucht und Migration nicht im Herbst gelöst sein wird – und auch nicht im Jahr 2017. Wir sind mit einer nachhaltigen Verwerfung auf der politischen Weltkarte konfrontiert. Wir müssen das Problem ganz grundsätzlich angehen, sonst werden wir immer einen Schritt hintennach sein. Diese Einschätzung hat sich in New York bestätigt, auch in meinen Gesprächen mit dem ägyptischen Präsidenten, dem jordanischen König und den Ministerpräsidenten des Irak, des Libanon und Libyens – lauter Hotspots. Wir haben bisher oft zu wenig getan – und das außerdem zu spät. Es stehen Millionen Menschen vor unseren Toren, und in Wahrheit dürfen wir Länder wie den Libanon mit seinen 1,5 Millionen Flüchtlingen nicht zurücklassen.

STANDARD: Was ist also zu tun?

Kern: Zunächst müssen wir besprechen, wie die Grenzsicherung vonstattengehen kann. Die Entsendung von 250 Frontex-Kräften nach Bulgarien war ein erster solcher Schritt. Gleichzeitig beginnen aber schon viele EU-Partner, wie etwa Ungarn, das Problem auf eigene Faust zu lösen – was verständlich ist, denn dort herrscht Ungeduld wegen der fehlenden Gesamtlösung. Ungarn ist insofern ein gutes Beispiel: Wenn es die Grenze zu Serbien dichtmacht, kommt es zu einer humanitär nur schwer erträglichen Situation. Wir können nicht wegschauen, denn wir sind Nutznießer dieser Orbán'schen Politik, weil damit viel weniger Flüchtlinge nach Österreich oder Deutschland kommen. Wir haben daher auch die Verantwortung, uns um die negativen Folgen dieses Vorgangs zu kümmern. Irgendwann werden sich diese Menschen von allein auf den Weg machen, und das Problem verschiebt sich an eine andere europäische Grenze.

STANDARD: Wie kann also ein Aktionsplan für Samstag aussehen?

Kern: Das Treffen ist der Versuch, den Entscheidungsprozess in der EU zu beschleunigen. Wir müssen gemeinsam definieren, wo wir rigide Grenzsicherung vornehmen müssen – nicht nur in Griechenland. Und dann müssen wir besprechen, wie wir mit der Lage vor Europas Toren umgehen sollen. Wir haben Verantwortung für diese Menschen, die da kommen. Das sind Menschen und nicht bloß irgendwelche Zahlen; Menschen mit Sorgen, mit Ängsten.

STANDARD: Wir müssen also konkreter agieren als bisher?

Kern: Genau. Mein Ziel wäre ein genauer Report dessen, was sich an einzelnen Grenzabschnitten abspielt und welche Art von Unterstützung dort genau benötigt wird. Im zweiten Schritt müssen wir darüber reden, wie wir den Ländern, die besonders betroffen sind, helfen können. Da reden wir natürlich auch über Griechenland. Athen ist jetzt noch in der Lage, die Sache einigermaßen zu bewältigen, aber der Druck wird größer werden. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.

STANDARD: Aber nur Grenzsicherung kann es ja wohl nicht sein ...

Kern: Nein, wir müssen besprechen, wie wir die Hilfe vor Ort, in den Herkunftsländern von Flüchtlingen und Migranten, strukturieren. Wir müssen nach dem Muster des Abkommens mit der Türkei versuchen, weitere Partner zu finden. Flüchtlinge sollen möglichst nahe den Herkunftsländern betreut werden. Das geht so weit, dass Europa in die wirtschaftliche Entwicklung dort investieren sollte. Das ist einfach. Wir müssen die Voraussetzungen schaffen, dass solche Hilfsprogramme überhaupt möglich werden.

STANDARD: Das wäre also das, was als "Marshallplan für Afrika" postuliert wird?

Kern: Vielleicht ein großes Schlagwort, aber in Österreich hat der Begriff ja einen historischen Bekanntheitsgrad. Es ist schon klar, dass das ein sehr langfristiges Programm ist. Aber schließlich haben wir es auch mit einem langfristigen Problem zu tun.

STANDARD: Einer dieser Partner ist die Türkei. Nun wird auch mit Ägypten verhandelt. Ist Kairo wirklich ein zuverlässiger Partner?

Kern: Wir haben kaum andere Alternativen, als zu versuchen, diese und andere Regierungen – etwa jene im Libanon und in Jordanien – dahin zu bringen, dass der Plan funktioniert. Es geht ja nicht darum, dass sie der EU beitreten. Wir haben dennoch gemeinsame Interessen: nämlich jene, dass unsere jeweils eigenen Länder nicht destabilisiert werden. Diese Stabilität hat sicher einen Preis, aber es ist wichtig, eine Vereinbarung zu treffen.

STANDARD: Wie ist der aktuelle Stand der europäischen Gespräche mit Ägypten?

Kern: EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini ist regelmäßig in der Region, sie macht da einen exzellenten Job und hat dort auch einen sehr, sehr guten Ruf. Sie weiß, dass wir neue Strukturen schaffen müssen. Umso schmerzlicher war es, dass die EU-27 beim jüngsten Gipfel in Bratislava nicht über kraftlose Deklarationen hinausgekommen sind.

STANDARD: Was ist die Strategie dahinter, eine Streuung von Druck und Risiko?

Kern: Wir müssen diese große Aufgabe auf mehrere Schultern verteilen. In der Wirtschaft würden wir wohl von Risikomanagement sprechen. Heute haben wir nur einen einzigen Partner, und wir sehen gerade, wie schwierig es ist, sich in eine solche singuläre Abhängigkeit zu begeben – denn die Türkei weiß, dass sie der einzige Partner ist.

STANDARD: Woher will denn Europa das Geld nehmen?

Kern: Allein Österreich gibt 2016 zwei Milliarden Euro für die Beherbergung und Integration von Flüchtlingen aus. Das ist sehr viel Geld. Wenn es uns gelingen würde, das Geld vor Ort zu investieren, könnten wir wesentlich mehr Menschen erreichen und ihnen helfen. Beim Libanon reden wir vom Faktor 20 zu eins. So gesehen, ist das mit Sicherheit die effizientere und billigere Variante.

STANDARD: Wie wollen Sie die EU-Partner, die sich bisher weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, davon überzeugen, sich zumindest finanziell zu beteiligen?

Kern: Das ist schwierig, aber ganz ehrlich: Wenn wir dieses Problem nicht lösen können, dann stellt sich das europäische Projekt, das auf Solidarität und Gemeinsamkeit aufgebaut ist, selbst infrage. Das Problem ist so groß, dass sich niemand seiner Verpflichtung entziehen darf. Das wäre auf Dauer nicht akzeptabel. Österreich hat seine Möglichkeiten ausreichend ausgeschöpft. Wir stehen nicht vor einem Problem, das heuer vorbei sein kann, sondern es ist ein Generationenproblem.

STANDARD: Welche EU-Partner werden am ehesten auf diesen Zug aufspringen oder gar Lokomotive spielen?

Kern: Das müsste Deutschland sein, gar keine Frage. Die Bereitschaft dazu ist dort eindeutig vorhanden. Mit Sicherheit dabei sind auch die Italiener und die Franzosen. Das Problem ist aber, dass der Leidensdruck in Europa – noch – unterschiedlich verteilt ist. Man muss aber auch Partner außerhalb der EU finden, die beitragen können, solche Projekte durchzuführen. Zwischen dem Design und der Ausführung eines solchen Programms gibt es natürlich einen großen Unterschied.

STANDARD: Wie bewerten Sie die Lage zwischen Libyen und Italien, das ja wegen der "Mittelmeerroute" besonders exponiert ist?

Kern: Wir können froh darüber sein, was Matteo Renzi und seine Regierung getan haben und auch noch tun. Momentan kommen über Italien sehr, sehr wenige Menschen nach Österreich. Daher stehen zusätzliche Grenzsicherungsmaßnahmen unsererseits – etwa am Brenner – momentan nicht im Fokus. Wenn sich das aber ändern sollte, werden wir vorbereitet sein. Prinzipiell muss aber gesagt werden: Ein Grenzwall innerhalb des Schengenraumes muss das allerletzte Mittel, die Ultima Ratio, sein. Daher ist es umso wichtiger, dass die EU zu einem gemeinsamen Aktionsplan findet. (Gianluca Wallisch, 22.9.2016)