Bei der Gefahr von Infektionserkrankungen geht es nicht um Individualität – nur kollektives Vorgehen kann schwere Epidemien verhindern. Der Begriff Herdenimmunität ist deshalb für Gesundheitsbehörden von zentraler Bedeutung.

Foto: APA

Europa soll gegen tückische Infektionskrankheiten wie Ebola, Mers-CoVirus, Kinderlähmung, Masern krisensicherer gemacht werden. In Mondorf in Luxemburg diskutieren Vertreter aus 17 EU/EEA-Staaten Leitlinien-Entwürfe zur Verhinderung von Polio-, Mers- und Masern-Ausbrüchen. Fazit: Nur breiter Impfschutz in Europa ist das geeignete Gegenmittel. Denn hoch gefährliche Infektionskrankheiten werden durch Erreger verursacht, die sich nicht an Landesgrenzen halten.

Oft wären diese Krankheiten durch die Impfung möglichst vieler Personen verhinderbar. Die von manchen Politikern verbreiteten Schreckgespenster, dass Kriegsflüchtlinge und Migranten sie nach Europa "einschleppen" und die "örtliche" Bevölkerung gefährden könnten, entbehren aber jeder Sachlichkeit.

"Die Empfänglichkeit gegenüber einer Erkrankung wie der Kinderlähmung hängt von der Immunität, also dem Impfschutz, der Bevölkerung ab. Sie hängt nicht von Migranten ab, unabhängig davon, ob es Flüchtlinge sind oder ob sie per Flugzeug und Erster-Klasse-Ticket aus Pakistan auf dem Flughafen London-Heathrow ankommen", betonte ein britischer Spezialist.

Kollektiver Impfstatus entscheidend

Saulius Caplinskas, litauischer Virologe, Aids-Spezialist und Public Health Spezialist ergänzte: "Das alles ist nicht eine Angelegenheit der Migranten oder Flüchtlinge. Der Schutz ist unsere ureigenste Angelegenheit." Sei das Impfwesen mangelhaft, mache das erst die Gefahr aus.

Die gefürchtete Kinderlähmung ist ein klassisches Beispiel. Robb Butler vom Regionalbüro Europa der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sagte: "Es ist gerade hundert Jahre her, dass es in New York eine katastrophale Polio-Epidemie mit mehr als 6.000 Toten und Tausenden Hospitalisierten gab. Es gab nichts, um die Krankheit zu bekämpfen. Seit 1955 gibt es die Polio-Impfung."

Noch 1988 gab es weltweit täglich rund 1.000 neue Fälle schwerster Lähmungen durch die Viruserkrankung. Die Polio grassierte noch in 125 Staaten der Erde. Seither wird um die mögliche Ausrottung der Krankheit gerungen. "Wir sind ziemlich weit gekommen. In den vergangenen zwölf Monaten wurden weltweit 53 Erkrankungen registriert. Doch die Polio hält sich nicht an Staatsgrenzen."

Lebenslanger Impfschutz

Grenzkontrollen, Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtlinge und Migranten – das alles hilft nichts, wenn in der Bevölkerung eines Staates die Immunisierung per Vakzine nicht flächendeckend und über alle Altersgruppen – vom Baby bis zum Senior – klappt. "2010 wurde die Krankheit beispielsweise von Indien nach Tadschikistan mit dort 478 Fällen weiter verbreitet", sagte Butler. Erkrankungen gab es damals zum Beispiel auch in Russland und in Turkmenistan.

2002 wurde die WHO-Region Europa mit 53 Mitgliedsländern (z.B. auch Russland und die zentralasiatischen Staaten) für Polio-frei erklärt. Doch die Enteroviren als Verursacher der Poliomyelitis sind heimtückisch.

Aktuell werden Erkrankungen nur noch in Afghanistan und Pakistan beobachtet. Freilich, ab Ende Mai 2013 wurden "stumme" Infektionen ohne Krankheitssymptome durch offenbar eingeschleppte Polio-Viren bei 59 Menschen in Israel beobachtet. Jederzeit hätte ein echter Krankheitsausbruch erfolgen können.

Auswahl von Impfstoffen

Verkompliziert wird die Angelegenheit dadurch, dass bei breiter Verwendung der Schluckimpfung (abgeschwächte Lebendviren) selten auch Fälle von Infektionen durch "Impfviren" verursacht werden können. Das war zum Beispiel in zwei Fällen im August 2015 in der Ukraine der Fall. In den meisten entwickelten Staaten deshalb auch auf injizierbare Totimpfstoffe umgestellt.

"Die Ukraine ist ein Land mit einer tickenden Zeitbombe", sagte bei der Expertenkonferenz Robb Butler. Dort – nur wenige hundert Kilometer von Österreich entfernt – sei das Impfwesen in den vergangenen Jahren de facto zusammengebrochen. "48,4 Prozent der Menschen sind dort durch drei Impfungen vor der Kinderlähmung geschützt. Die Durchimpfungsrate gegen Masern-Mumps-Röteln beträgt 32 Prozent, jene gegen Diphtherie-Tetanus und Pertussis (Keuchhusten; Anm.) 20 bis 40 Prozent."

Ein funktionierendes Impfwesen, schnelles Erkennen verdächtiger Symptome, ausreichend Labor-Expertise zum allfälligen Nachweis der Polio und sofortige Gegenmaßnahmen durch Feststellung von Kontaktpersonen, Impfungen sowie die Information der Öffentlichkeit sind im Fall des Falles erforderlich.

Die Lage der Nationen

An sich sollte 2018 das Ziel der Ausrottung der Kinderlähmung weltweit erreicht werden. Ob dieses "Endspiel" aber geschafft wird, wird man erst dann wissen. Laut einer vorläufigen Bewertung sind im Europa des Jahres 2016 Rumänien als Nachbarland zur Ukraine, Italien und Griechenland einem hohen Risiko für das Wiederauftauchen der Kinderlähmung ausgesetzt.

In Österreich ist die Impfung gegen Polio im kostenfreien Impfprogramm enthalten. Im Rahmen der 6-fach-Impfung wird die inaktivierte Polio-Impfung (IPV; Totimpfstoff) im 3., 5. und 12. (-14.) Lebensmonat verabreicht. Im Schulkindalter wird eine Kombinationsimpfung mit Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten im 7. (-9.) Lebensjahr wiederholt.

Nach der Grundimmunisierung im Säuglingsalter und der Auffrischungsimpfung im Schulalter soll bis zum vollendeten 60. Lebensjahr eine Auffrischungsimpfung mit IPV als Kombinationsimpfstoff mit Diphtherie, Tetanus und Pertussis alle zehn Jahre durchgeführt werden. Ab dem vollendeten 60. Lebensjahr sollte das alle fünf Jahre erfolgen. (APA, 28.9.2016)