Beim Ärztestreik Anfang September in Wien trugen die Demonstranten weiße Mäntel – ein Statussymbol ihres Berufs.

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Sylvia Wright kommt aus einer Familie, in der weiße Kittel eine lange Tradition haben. Sie ist Ärztin in der vierten Generation, arbeitet als niedergelassene Dermatologin in der US-Metropole Atlanta. Der Kittel symbolisiert für sie "den Stolz, die Ehre und die Verantwortung, Medizin zu praktizieren".

Wright könnte jedoch die letzte in ihrer Ahnenreihe sein, die einen weißen Kittel trägt. Denn dem Wahrzeichen und Statussymbol der Ärzteschaft geht es – sprichwörtlich – an den Kragen. Vor allem in den USA und in Deutschland ist derzeit eine hitzige Debatte über die Abschaffung der weißen Kittel im Gange.

Wichtigstes Argument der Kittelkritiker: Die langärmligen Mäntel seien Keimschleudern. "Es gibt genug Indizien, die es rechtfertigen, den weißen Kittel an den Nagel zu hängen", sagt Michael Edmond, Facharzt und Professor für Infektionsmedizin an der Universitätsklinik von Iowa.

Überträger von Krankenhauskeimen

Tatsächlich fanden Studien zahlreiche Krankheitserreger an Arztkitteln, besonders konzentriert an Ärmelaufschlägen und Taschenrändern. Darunter war auch der berüchtigte Krankenhauskeim MRSA, der gegen die meisten Antibiotika resistent ist. Eine Umfrage unter US-Medizinern kam ferner zu dem Ergebnis, dass 58 Prozent der Ärzte ihre Kittel nur einmal im Monat, wenn überhaupt, reinigen lassen.

Historisch hat der weiße Kittel an eine klinische und eine kulturelle Bedeutung. Bis ins späte 19. Jahrhundert trugen Chirurgen schwarze Gehröcke im OP-Saal. Deutsche Mediziner führten den weißen Laborkittel als Hygienemaßnahme ein. Er galt fortan als Symbol für Reinheit und diente zugleich dem Zweck, Ärzte als Wissenschaftler zu etablieren und von Quacksalbern zu unterscheiden.

In den USA gibt es bis heute an vielen Universitäten eine "White Coat"-Zeremonie – eine Art Initiationsritus, bei dem Medizinstudenten ihren ersten weißen Kittel erhalten. Kein Wunder also, dass der Medizinerverband American Medical Association (AMA) einen Vorstoß zur Abschaffung der Doktormäntel abschmetterte. Begründung: Der Beweis, dass Keime auf dem Arztkittel zu Infektionen beim Patienten führten, sei nicht hinreichend geführt.

Besser kurzärmelig

Ein Argument, das Infektionsmediziner Edmond kaum überzeugt. Er hatte sein persönliches Aha-Erlebnis 2007, als der staatliche britische Gesundheitsdienst "National Health Service" (NHS) eine neue Kleiderordnung für Klinikpersonal verfasste und damit das Ende des weißen Kittels in Großbritannien einläutete: "Bare below the elbow" heißt die Regel, nach der Ärzte und Pflegepersonal weder Stoff noch Schmuck unterhalb des Ellenbogens tragen dürfen. Auch in den Niederlanden sind blanke Unterarme die Norm.

"Das macht absolut Sinn", findet Edmond. Allein schon, weil der gesunde Menschenverstand sagt, dass eine gründliche Händedesinfektion vor und nach jedem Patientenkontakt mit kurzen Ärmeln schlicht einfacher geht. Zusammen mit einigen Kollegen startete Edmond eine Kampagne gegen die kontaminierten Kittel. Er selbst tat seinen Dienst fortan nur noch in sogenannten Scrubs – kurzärmligen OP-Hemden mit passenden Hosen aus leichter Baumwolle, eine Arbeitsuniform, die ursprünglich nur Chirurgen vorbehalten war.

Zwar folgen an den großen amerikanischen Universitätskliniken immer mehr Ärzte Edmonds Beispiel. Doch geht es insgesamt in US-Krankenhäusern noch immer recht traditionell zu; da gehört der Arzt, der im wehenden weißen Kittel durch die Flure schwebt, nach wie vor zum Alltagsbild. Auch viele niedergelassene Ärzte tragen weiterhin Kittel – über der Straßenkleidung oder den Scrubs.

Diskussion um Dresscode

Ähnlich zerrissen verläuft die Debatte auch in Deutschland. Der private Klinik-Konzern Asklepios führte als erster Krankenhausbetreiber einen neuen Dresscode ein. Danach tragen Asklepios-Ärzte künftig weiße, kragenlose, kurzärmlige Hemden, sogenannte Kasacks. Die Berliner Charité erklärte, sie prüfe diesen "interessanten Verbesserungsvorschlag". Die Ärztekammer Hamburg verteidigte dagegen den "unstrittigen Placeboeffekt" des Doktormantels. Und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund forderte Asklepios auf, die Abschaffung des Kittels zurückzunehmen.

Der Klinikkonzern ließ seinen Medizinern derweil eine Hintertür offen: Die Ärzte dürfen ihre weißen Kittel "zu repräsentativen Zwecken" tragen, für "Vorlesungen oder Auftritte vor der Kamera", wie es in einer Mitteilung heißt. Oder auch bei einer Demonstration, so wie kürzlich in Wien, als knapp 2000 Spitalsärzte für bessere Arbeitszeiten auf die Straße gingen – in weißen Kitteln, versteht sich. In Österreich findet derzeit zwar keine breite Debatte über die Abschaffung der Doktormäntel statt, doch hinter den Kulissen testen Krankenhäuser verschiedene Modelle für eine neue Kleiderordnung.

Bereits jetzt gilt in Österreich eine Variante der britischen "Bare below the elbow"-Regel: "Das untere Drittel der Unterarme muss frei bleiben", heißt es in einer Richtlinie für Mitarbeiter von Gesundheitseinrichtungen. Dennoch tragen viele Ärzte bei der Visite im Spital oder bei privaten Sprechstunden noch immer Kittel.

Ärzte, als "Götter in Weiß"

Manche Häuser experimentieren auch mit Einheitskleidung. "Das Problem dabei ist, dass es Patienten und Angehörigen oft schwer fällt, Ärzte auf den ersten Blick vom Pflegepersonal zu unterscheiden", sagt Anna Kreil, Oberärztin, Internistin und stellvertretende Obfrau der österreichischen alternativen Ärztegewerkschaft Asklepios. "Das kann zur Verwirrung führen, wer was gesagt hat."

Tatsächlich kommen mehrere internationale Umfragen zu dem Ergebnis, dass Patienten einen Arzt im Kittel als professioneller und vertrauenswürdiger empfinden. Infektionsmediziner Edmond bleibt skeptisch. "Meinen Patienten ist es egal, ob ich als Arzt Pyjamas trage. Hauptsache, ich helfe ihnen." Im übrigen führe eine Abschaffung der weißen Kittel auch dazu, "dass die Hierarchien im Gesundheitswesen flacher werden", sagt Edmond. Und wenn ihn jemand ab und zu mit einem Pfleger verwechsele, "habe ich damit kein Problem".

Das hat auch Sylvia Wright nicht. Sie brauche keinen weißen Kittel für ihr Ego, sagt die Hautärztin. Sie trage den Kittel vor allem aus praktischen Gründen: Die Taschen bieten Platz für Stethoskop, Rezeptblock, Kugelschreiber. "Außerdem führe ich viele verschiedene Eingriffe durch", erklärt sie weiter. "Da schützt der Kittel meine Kleidung" – und wenn er mal ein paar Tropfen Säure, Blut oder andere Körperflüssigkeiten abbekommt, könne sie ihn schnell wechseln.

Autorität für Patienten

Im übrigen erfahre sie immer wieder, "wie hartnäckig sich überkommene Vorurteile halten". Wenn sie ihren Kittel einmal nicht trage, werde sie – anders als die männlichen Kollegen in ihrer Praxis – meist nicht als Ärztin wahrgenommen. "Weil ich eine Frau bin, und weil ich Afroamerikanerin bin", sagt sie. "Das spielt in den USA eine Rolle, wenn auch weniger als früher." Jedenfalls findet sie, dass Patienten klar wissen sollten, mit wem sie es zu tun hätten – und da diene der Kittel als Signal.

Wenn Wissenschaftler und Modedesigner allerdings eine hygienischere, praktischere und schickere Alternative finden würden, sagt sie und lächelt, dann gebe sie gerne ihren weißen Kittel ab – Familientradition hin oder her. (Katja Ridderbusch, 2.10.2016)