Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlseins und nicht nur das Fehlen von Krankheit und Schwäche", definierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1986. Gemäß der WHO-Definition gesund zu sein scheint höchstens in Momentaufnahmen möglich – wer kann schon diese Vollständigkeit abhaken? Sind wir also alle meistens besorgniserregend krank?

Stressforscher und Medizinsoziologe Aaron Antonovsky nimmt für seine "Salutogenese" den ganzen Menschen, nicht den "Patienten" ins Bild.
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Der 1994 verstorbene Stressforscher und Medizinsoziologe Aaron Antonovsky brachte mit seinem Modell einer dynamischen, multidimensionalen Entwicklung zwischen gesund und krank, mit einer Auflösung dieser puren Gegensätze, mit der gleichzeitigen Verbindung von physischem und psychischem Wohlbefinden neue Sichtweisen. "Salutogenese" nannte er seinen Zugang zum Gesunden. Er dreht die Perspektive vom Blick auf Ursachen und Bewältigung von Krankheit und sieht auf Bedingungen und Förderung von Gesundheit. Dies allerdings befreit von den Normen, die Gesundheit für jeden und jede einheitlich festlegen. Der Fokus dabei liegt auf den Ressourcen, die ein Gesunden ermöglichen. Im Blick ist der ganze Mensch, nicht der "Patient".

Stress ist nicht nur böse

Je nachdem, wie Menschen es vermögen, mit Stressoren umzugehen und diese zu verarbeiten – verkürzt eine Erfahrung machen, die durch Unter- oder Überforderung, Konflikte, Verluste und fehlende Entscheidungsteilhabe geprägt ist -, werden gesundheitsschädliche (pathogene) oder eben salutogene Prozesse angestoßen. Der gern allgemein und immer verteufelte "Stress" ist also nicht nur "böse". Es geht vielmehr um die Widerstandsressourcen und darum, was diese individuell mit Spannung machen: in wachstumsfördernden Stress verwandeln oder einen niederstrecken.

Am gesundheitsförderlichsten, fand Antonovsky, sind tiefe Beziehungen zu anderen, stabile Beziehungsnetzwerke in Familie, unter Freunden, unter Kollegen sowie die Möglichkeit, sich sinnerfüllt im Gefüge zu sehen – im Unternehmen, im Verein, in der Freiwilligenarbeit. Anpassungsfähigkeit (heute gerne Resilienz genannt) und eine gut gefühlte Identität gehören ebenfalls zu den stärksten Widerstandsressourcen.

Stress ist nicht nur böse: Es gehe vielmehr darum, wie Widerstandsressourcen diesen umwandeln oder niederstecken.
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Da findet ein Anschluss an die aktuelle Neurobiologie, aber auch an die Religionswissenschaften statt, da kommt wieder der Sinn ins Spiel: In all seinen Studien (auch unter Überlebenden der Nazi-Vernichtungslager) ist ein dynamischer Gesundungsprozess dann am besten möglich, wenn Menschen Sinn in ihrem Leben sehen und daraus folgend es als lohnend empfinden, Energie in die Auflösung der Stressoren zu investieren. Getragen von einem tiefen Vertrauen in den Lebenssinn und die Bedeutsamkeit.

An der Sinnfrage führt kein Weg vorbei

Dieses Konzept der Ressourcenschau und -stärkung hat sich auch in Modelle der Arbeitsgesundheit hinein entwickelt. Mit allen Schwierigkeiten: Es kann nun einmal nicht jeder eine Conchita Wurst sein, die nur "das macht, was mir Spaß macht". Wenn das denn überhaupt stimmt und nicht nur hochglanztaugliche Performance ist. Zunehmender Wert- und Sinnverlust in der Arbeit, gern auch Entfremdung tituliert, sind ja ein flächendeckendes Phänomen geworden. Als Symptome dürfen Burnout als erschöpftes Ausgebranntsein und Boreout als unertragbares Ausgelangweiltsein stehen. Die einen laufen den ganzen Tag wie wild herum, bis sie zusammenbrechen, die anderen wissen nicht, wie sie die Stunden weiterbringen sollen, und stürzen in als völlig bedeutungsleer empfundene Sinnlosigkeit.

Die brüllende Sinnfrage drängt sich aktuell schon früh ins Leben im Zusammenhang mit der Arbeitswelt und der damit verbundenen Frage nach einem sinnvollen Platz und Beitrag zum Ganzen: Es wird brutal aussortiert, es wird gnadenlos selektiert. Früh ist klar, wer brauchbar ist, sein kann, wer nicht, wer minderleistet, wer das Zaubersackerl der brauchbaren Zukunftsqualifikationen in der Hand hält.

Guter Nährboden für Süchte

Auf diesem Schlachtfeld mit seinen gesundheitsrelevanten und existenziellen Fragen gedeihen auch die Süchte allerbestens. Arbeitssucht, sagt etwa der Benediktinermönch und vielfache Bestsellerautor Anselm Grün, sei letztlich verdrängte Sehnsucht. Das ewig unerreichbare Ziel nach maximaler Anerkennung und nach Erfolg. Bloß auf der falschen Ebene offenbar, denn es ist ja nie genug. In der Geltungssucht wolle der Mensch in seiner Einmaligkeit gesehen werden. Grün: "Die Arbeitssucht macht den Menschen nicht stärker, sondern nur innerlich hart, sodass er die Sehnsucht, die dahintersteckt, gar nicht mehr spürt." Oder nicht mehr spüren muss. Ein Vor-sich-selbst-in-verzweifelter-Sinnsuche-Davonlaufen.

Arbeitssucht als verdrängte Sehnsucht – ein Vor-sich-selbst-in-verzweifelter-Sinnsuche-Davonlaufen.
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Laut Grün tun sich viele Wege auf, um sich entweder von der Raserei der Arbeitssucht oder eben aus dem Loch der bedeutungslosen Leere zu befreien, der Sinnsuche Sinn zu verleihen. Immer geht es darum, sich selbst zu befreien, mit sich selbst in Berührung zu kommen, sich zu spüren, sich mit den eigenen wahren Bedürfnissen, Sehnsüchten zu konfrontieren.

Keine Rezepte

Viktor Frankl hat erforscht – und die Neurobiologie nunmehr auch belegt -, was als Sinn erlebt wird: Wenn etwas Schönes passiert, dann ist das Leben im Augenblick sinnvoll. Wenn etwas gelungen ist, im Leben oder in der Arbeit, aus persönlichem Tun heraus, dann verspüren Menschen Sinn. Und daraus der bekannte Imperativ: "Es liegt an mir, meinem Leben, meiner Arbeit einen Sinn abzutrotzen."

Das wird nicht auf Rezept gelingen. Dazu braucht es schon die Erkenntnis, dass ein anderer Weg notwendig ist. Wenn mich, sagt Anselm Grün, meine Arbeit hart macht, wenn ich durch sie immer gereizter werde, dann ist das ein Zeichen, dass ich mich nicht auf meine Arbeit einlasse, sondern dass ich sie benütze, um innere Leere zu stopfen. Oder wenn ich mich ausgenutzt fühle, die Menschen neben mir nie so viel arbeiten wie ich, dann ist das auch ein Zeichen, dass mir die Arbeit nicht Freude bereitet, sondern dass ich sie missbrauche.

Damit es nicht mehr quält

Als Schritte hinaus empfiehlt Grün Rituale. "Eine heilige Zeit" (wie er im Interview mit der Zeitschrift Sucht sagt) einräumen, die einem nur selbst gehört. Da soll es um Leben statt um Gelebtwerden gehen. Schrittweise in Einübung. Ein schwieriges Unterfangen, weil schwierige Arbeitsverhältnisse die Arbeit zum Mittel zum Zweck, zum Job degradieren. Das eigentliche Leben kann ja dann erst nach der Arbeit beginnen. Anders herum: Wer tut, was zur eigenen Identität, den eigenen Werten passt und auch noch mit positiven erlebbaren Konsequenzen verbunden ist, den quält Sinn nicht.

Die wahre Frage: Das Gefühl, zu etwas gut zu sein.
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"Es geht mir gut" sagt jeder als Formel. Aber das Gefühl, zu etwas gut zu sein, ist im Brennpunkt der zum Fetisch gewordenen Mitgliedschaft in der Brauchbarkeit des Arbeitsmarktes etwas anderes – und eigentlich die wahre Frage. Daraus entsteht so oft die unselige Verquickung einer Deckungsgleichheit von Lebenssinn und einer beruflichen Anstellung. In diesem Fehlschluss "arbeitslos" ist gleich unbrauchbar und sinnlos liegt sichtlich größte gesellschaftliche Sprengkraft. Und eben auch die Falltüre zum Kranksein. (kbau, 26.10.2016)