Es ist ein Video, das binnen weniger Tage mehrere Hunderttausend Mal angesehen wurde – online natürlich. Darin zu bestaunen: ein opulentes Mahl im vorrevolutionären Frankreich. Aber bevor das Festessen verspeist werden kann, muss es bildlich festgehalten werden. Kein schneller Smartphone-Schnappschuss, sondern ein Ölgemälde wird dem Hofe dann vorgeführt, im Hintergrund läuft Vivaldi. Am Ende tritt der Diener mit dem Bild wieder vor die versammelte Tafel und verkündet das Fazit: Daumen hoch.

Ikea mit dem Ratschlag "Let's Relax".
IKEA

Verhöhnt wird mit diesem Video der Like-Wahnsinn, der aus den sozialen Medien kommend längst schon unseren Alltag bestimmt. Es ist eben längst nicht mehr undenkbar, dass die perfekt arrangierte Gemüselasagne erst noch fünfmal fotografiert und mit passenden Hashtags versehen werden muss, bevor sie womöglich schon kalt ihr eigentliches Schicksal erfährt und gegessen wird. Der Titel des Videos deshalb: Let's relax - am Ende tritt eine Familie auf, die gemeinsam entspannt zu Abend isst. Ausgerechnet Ikea ist der Schmäh eingefallen, dem schwedischen Möbelhaus, das selbst intensiv auf Plattformen wie Instagram und Co den Skandinavian Way of Life promotet und mit den besten Filtern versehen in die Welt hinaus postet.

Sarah Diefenbach fällt ein anderes Beispiel dafür ein, welche Regeln und Angewohnheiten aus den sozialen Netzwerken uns längst auch schon offline verfolgen: "Stellen Sie sich vor, beim gemeinsamen Frühstücken mit der Familie steht einer immer wieder auf, geht zur Wohnungstür, checkt den Briefkasten, kommt zurück, und das Ganze zigmal. Das Verhalten wirkt grotesk. Findet es aber im Kontext sozialer Medien statt, finden wir es plötzlich alle ganz normal." Diefenbach ist Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, studiert hat sie Psychologie mit Nebenfach Informatik. Sie forscht auf dem Gebiet Mensch-Technik-Interaktion und untersucht insbesondere positive Emotionen und die Schwierigkeit zu entscheiden, was einen glücklich macht. Gemeinsam mit Daniel Ullrich hat sie dazu das Buch "Digitale Depression – Wie neue Medien unser Glücksempfinden beeinflussen" geschrieben.

Ein vom Smartphone-Wahnsinn genervter Vater mit einer kreativen Antwort.
Matthew Abeler

Gegen Digital Devices, so die Grundaussage, sei grundsätzlich nichts einzuwenden, solange es eben nicht zu viel wird an verschiedenen Apps, Tönen, Icons, Likes, Nachrichten und Bildern. Aber wann ist die Grenze überschritten? Spätestens dann, wenn das Verhalten zulasten der direkten Kommunikation und der Umwelt geht, wenn Gespräche oberflächlicher werden, sagt Diefenbach – und natürlich, wenn man seine eigenen Bedürfnisse vernachlässigt und keine Zeit mehr zum Durchatmen bleibt.

"Always on" hat Folgen

Ein Beispiel, das viele kennen: Feierabend, aber das Smartphone fiept und kündigt eingetroffene E-Mails an. Die meisten, das weiß man aus diversen Untersuchungen, können die Arbeit in diesem Moment nicht liegen lassen, sondern schauen nach – schließlich könnte es wichtig sein. Und selbst wenn es gelingt, das Postfach nicht zu öffnen, belastet das bloße Wissen, dass darin etwas wartet.

Seitdem Smartphones hosentaschenkompatible Hochleistungscomputer sind, verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben zunehmend – Psychologen sprechen dabei von "Entgrenzung". Der klassische Acht-Stunden-Tag oder die Fünf-Tage-Woche sind passé, die Arbeit begleitet uns mitunter ständig und folgt uns bis ins Schlafzimmer. Nur wird das Checken von Mails spätabends oder das Vereinbaren eines Termins am Sonntag nicht als Arbeit empfunden, weil man ja sowieso am Handy ist. Die Arbeit ist nur ein-, zweimal Wischen entfernt.

Das führt letztendlich nicht nur zu einer Vielzahl an Stunden unbezahlter Arbeit, sondern belastet auch psychisch und physisch. Wer ständig am Smartphone ist, schläft beispielsweise schlechter, zeigen Studien. Schuld daran ist das Blaulicht der Displays: Es ist normalerweise nur im Tageslicht enthalten und versetzt damit den Organismus in den Wachmodus. Auch der Stresslevel steigt an, sobald das Smartphone auch nur eine neue E-Mail anzeigt. Selbst der IQ sinkt offenbar kurzfristig, wenn man eine ungelesene Nachricht im Postfach weiß, und zwar um ganze zehn Punkte, wie der britische Psychologieprofessor Glenn Wilson herausgefunden hat. Das liegt daran, dass es dem Gehirn zu viel wird. Wie ein Gefäß ist es irgendwann voll, wenn man zu viel einfüllt.

Das Blaulicht der Displays sorgt für schlechten Schlaf – nur eine Folge von "Always on"

Unsere Gehirne haben sich nämlich in einer viel einfacheren Zeit entwickelt, in der weit weniger Informationen auf uns eingeprasselt sind, erklärt der US-amerikanische Neurowissenschafter Daniel J. Levitin in seinem aktuellen Buch "The organized Mind – Thinking Straight in the Age of Information Overload". Deshalb kostet auch jede Push-Meldung, jede Facebook-Benachrichtung, jede Entscheidung, ob man eine E-Mail jetzt oder später beantwortet, Energie. Energie, die man eigentlich für wesentlich wichtigere Aufgaben verwenden könnte.

Blinkt oder fiept ununterbrochen etwas, werden auch längere Phasen der Konzentration zur Unmöglichkeit. Wissenschafter Levitin beschreibt die Vorliebe des Gehirns für Neues – dem Drang nach einem neuen Partner, neuen Erfahrungen und eben auch Neuigkeiten. Wenn man beispielsweise einen Text schreibt, wandert der Blick regelmäßig zum Smartphone. Bereitwillig lässt man sich davon ablenken. Alles andere als ideal, mahnt Levitin, denn dieses Multitasking benachteiligt den Präfrontalen Kortex, der dafür sorgt, dass man bei der Sache bleibt. Die Folge: Man nimmt Dinge nicht mehr bewusst wahr und behält sie auch schlechter im Gedächtnis. Das Gehirn kann sich nämlich nur auf eine, maximal zwei komplexe Tätigkeiten gleichzeitig konzentrieren, zeigten französischen Wissenschafter.

Das Zuviel an digitalen Geräten führt letztendlich auch dazu, dass ein "ohne" nicht mehr geht. Eine Mediensucht sei mit anderen Süchten – wie einer Alkohol- oder Spielsucht – durchaus vergleichbar, sagt Dominik Batthyány, Psychotherapeut und Leiter des Instituts für Internet- und Mediensucht an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien. "Man will damit möglichst schnell gute Gefühle erzeugen." Tatsächlich belohnt jede neue Nachricht das Gehirn mit Dopamin – den Neurotransmitter, der nicht umsonst als Glückshormon bekannt ist. Die Folge: "Man verliert die Kontrolle. Die Sucht bestimmt dann das Leben."

Selbst manchen Café-Betreibern wird es anhand solcher Szenen zu viel. "No Wifi. Talk to eachother like in 1990" – liest man bereits an einigen Orten.
Foto: Urban

Die Symptome sind Nervosität, Unausgeglichenheit – und eine Art Entzugserscheinung, die Fachleute als die "Fear of missing out" (zu Deutsch: Die Angst, etwas zu verpassen) bezeichnen. Wenn Betroffene wie Pawlow'sche Hunde auf Neuigkeiten reagieren, sind sie auch dementsprechend verunsichert, wenn sie für ein paar Stunden keine erreichen. Wissenschafter rund um Psychologieprofessor Larry Rosen untersuchten das "Fomo"-Phänomen – das auch zu Schlafproblemen führt – in einer Studie mit 700 Studierenden. Wie das Forscherteam beobachten konnte, zeigten rege Smartphone-Nutzer bereits Angststörungen, wenn sie nicht 24 Stunden pro Tag ihre elektronische Geräte im Blick hatten. Ein leerer Akku soll angeblich sogar zu einer Panikattacke geführt haben.

Und wie schützt man sich zuverlässig vor derlei Entgleisungen? Wie erlangt man die Souveränität über die eigene Zeit und Aufmerksamkeit zurück? Viele Ratgeber raten zu einer Offline-Strategie. Man solle das Smartphone abschalten, das Tablet beiseitelegen. Die Frage ist, wie praktikabel solche Ratschläge sind – kommt man wirklich offline durch den Alltag?

Schutz vor digitalem Wahnsinn

Die Antwort lautet sehr wahrscheinlich: nein. Denn schließlich, auch wenn man entscheidet, komplett abzuschalten – die Welt um einen herum tut das nicht. Viele Arbeitsgruppen tauschen sich mittlerweile via Facebook aus, geschäftliche Termine, Angebote und Infos werden nur im unternehmenseigenen Intranet gespeichert und veröffentlicht. Per se glücklicher sei man höchstwahrscheinlich ohne Smartphone nicht, räumt Psychologieprofessorin Diefenbach ein. "Entzug funktioniert nicht", sagt auch Psychologe Batthyány.

Wenn wir es uns es also schlichtweg nicht mehr leisten können, offline zu sein, müssen wir lernen, unser Smartphone zu kontrollieren, bevor es uns kontrolliert. Sich selbst klare Grenzen zu setzen ist dabei Regel Nummer eins gegen die sogenannte digitale Depression, sagt Batthyány. Kann heißen: Nur einmal E-Mails checken oder durch die Facebook-, Twitter- und Instagram-Timelines scrollen, aber dann das Handy auf lautlos stellen. Die Konzentration lässt sich durch Ausflüge in die Natur, Sport oder Meditation verbessern. So kann sich das überforderte Gehirn erholen.

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Viele Ratgeber schicken uns in den Offline-Modus. Aber wie praktikabel sind diese Strategien?
Foto: reuters

Im Job gilt es, Prioritäten zu setzen, damit es nicht zu viel wird. Es hilft beispielsweise, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass man alle Aufgaben erledigen und nebenbei auch noch sämtliche E-Mails beantworten und alle News verfolgen kann. Der gute Rat: Überlegen, welche Informationen wirklich wichtig sind. So erfordern einige E-Mails sofortige Beantwortung – andere sind aber schlichtweg nicht dringend oder irrelevant für die Aufgabe, die gerade ansteht.

Auch die Technik selbst kann ein wirksames Mittel sein, den Informationsüberfluss unter Kontrolle zu bekommen. Die meisten Programme wie Outlook oder Gmail, bieten bereits Filter und Einstellungen an, die dafür sorgen, dass nur die wichtigsten Nachrichten sofort durchkommen. Weniger wichtige Nachrichten wie Newsletter, Werbung oder Nachrichten, bei denen man in CC gesetzt wurde, können automatisch in spezielle Ordner geschickt werden – die man dann einmal pro Woche in Ruhe durchsehen kein. Beim Medienkonsum kann man ebenfalls Zeit sparen: Anstatt täglich sämtliche Social-Media-Applikationen durchzuscrollen und Zeitungsseiten zu checken, empfehlen Experten lediglich einen Newsfeed – wie beispielsweise Feedly, Flipboard oder Reeder – zu nutzen. Dort kann man den wichtigsten Medien folgen und Blogs abonnieren – und hat so alle Informationen auf einen Blick.

Besonders die vielen verschiedenen Social-Media-Profile sind richtige Zeitfresser, das Pflegen und Checken dieser Seiten kostet Nerven, wegen Fomo bleiben aber viele dennoch dabei. Um den Zeitaufwand also möglichst gering zu halten, gibt es auch hier eine Möglichkeit zu filtern: Posts könnten auf Facebook, Twitter, LinkedIn und Co gleichzeitig geteilt werden.

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Ein Foto aus dem "Camp Grounded" – ein Digital Detox-Camp in den kalifornischen Wäldern. Smartphone und Laptops müssen natürlich draußen bleiben.
Foto: reuters

Mit am wichtigsten ist es letztendlich aber, die Souveränität über die eigenen Bedürfnisse und Nöte zurückzuerlangen. So sollte man sich im Alltag immer mal wieder beobachten und fragen, ob einem der Umgang mit Medien in einem bestimmten Moment wirklich guttut oder eher belastet, schreibt Diefenbach. Batthyány nennt diese Fähigkeit "digital awareness" oder "digitales Situationsbewusstsein". Die Maxime: automatisierte Gewohnheiten überdenken – im eigenen Tagesablauf aber auch im Umgang mit anderen. "Da brauchen wir Manieren", sagt Batthyány. Damit meint er etwa, sich beim Essen auf das Gegenüber zu konzentrieren anstatt auf das Display. Aber auch, nicht zu erwarten, dass jemand innerhalb von ein paar Minuten auf eine E-Mail antwortet. Oder während Besprechungen das Mobiltelefon auf lautlos zu stellen. Batthyány ist zuversichtlich, dass sich dieses Bewusstsein mit der Zeit entwickeln werde – schließlich habe der Mensch auch mit anderen Symptomen des Fortschritts umzugehen gelernt – wieso also nicht mit E-Mail, Twitter, Whatsapp, Facebook, Snapchat und Pokémon Go.

Wo die Erholung wartet

Zur "digital awareness" gehört schließlich auch, genügend Erholungsphasen einzuplanen. Es muss nicht gleich ein Digital-Detox-Camp sein, wo Teilnehmer ein Wochenende lang alle elektronischen Geräte am Eingangstor zurücklassen – Ausspannen lässt sich vortrefflich im Alltag erproben. Zwei Psychologinnen haben in einer Studie beispielsweise festgestellt, dass sich Menschen am besten erholen (nicht nur von ständigem Blinken und Fiepen, sondern ganz allgemein), wenn sie sich am Abend oder am Wochenende mit Dingen beschäftigen, die keine Verbindung zur Arbeit des Tages haben. Besonders wichtig sind offenbar so genannte "mastery experiences": Momente, in denen man sich als kompetent wahrnehmen kann und Neues lernt. Aktivitäten wie Sport, aber auch soziales Engagement können diese "meisterlichen Erfahrungen" auslösen. (lib, lhag, 25.12.2016)