Jonathan Silverman ist Allgemeinmediziner, war Dekan der Medizinischen Universität von Cambridge und Präsident der European Association for Communication in Healthcare (Each). In dieser Funktion hat er zahlreiche Guidelines zum Thema herausgegeben, etwa "Calgary-Cambridge Guides to the Medical Interview", "Skills for Communicating with Patients" (Radcliffe Publishing 2005 bzw. 2013)

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Ungleiches Verhältnis, vertrauensvolles Gespräch: Kommunikation ist keine Kunst, sondern erfordert Know-how. Von Medizinern, aber auch von Patienten.

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STANDARD: Was unterscheidet ein Arztgespräch von einer normalen Konversation?

Silverman: Wenn ein Arzt mit einem Patienten spricht, sind die beiden Gesprächspartner auf komplett unterschiedenen Ebenen. Wenn Sie so wollen ist es ein ungleiches Machtverhältnis, das es zu überbrücken gilt. Arzt und Patient haben eine rein professionelle Beziehung zueinander.

STANDARD: Aber häufig geht es in diesen professionellen Gesprächen um sehr persönliche, oft hochemotionale Themen. Ist nicht genau das auch das Problem?

Silverman: Für den Patienten ja, für den Arzt nicht. Seine Aufgabe ist es, sein Gegenüber über den Gesundheitszustand zu informieren, eventuell den Therapieplan zu besprechen. Das Gegenüber nimmt allerdings all diese Informationen als sehr emotional und persönlich wahr. Das macht das Gespräch auch so schwierig.

STANDARD: Sie haben sich ausführlich mit diesen Situationen befasst. Welche Einstellung gegenüber Patienten hilft Medizinern, ein gutes Gespräch führen zu können?

Silverman: Patienten sind im Arztgespräch extrem verwundbar. Und zwar in jedem Fall. Da muss es gar nicht um eine schwere oder unheilbare Krankheit gehen. Es ist immer ein Spagat. Zum einen müssen Patienten rein kognitiv neue Informationen aufnehmen. Doch diese neuen Informationen betreffen sie ja ganz persönlich, können beunruhigend sein oder eine ganze Kette von Gefühlen auslösen. Und dann gibt es im Gespräch auch eine unmittelbare Reaktion, die ebenfalls sehr emotional sein kann. Es sind viele Unbekannte.

STANDARD: Wie damit umgehen?

Silverman: Aus Sicht des Arztes ist es gut, sich das stets bewusst zu machen. Was für Mediziner Routine ist, ist für Patienten immer eine einzigartige Situation. Ich denke, dass es deshalb sehr wichtig ist, einen persönlichen Kontakt zu etablieren.

STANDARD: Dafür ist im Spitalsalltag aber wahrscheinlich oft nicht die Zeit.

Silverman: Könnte man vermuten. Das ist ja immer auch das Argument. Ärzte haben Angst, dass der Aufbau eines persönlichen Kontakts ewig dauern könnte. Doch es gibt genaue Untersuchungen dazu, dass ein persönlicher Kontakt Zeit spart, weil man wesentlich zielgerichteter sprechen kann.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel geben?

Silverman: Eine Frau entdeckt einen Knoten in der Brust. Das ist häufig. Für eine Frau, deren Mutter an Brustkrebs gestorben ist, ist das eine total beängstigende Nachricht. Sie kommt in Panik zum Gespräch. Für eine andere Frau ist diese Nachricht aber viel weniger berunruhigend. Sie steht dieser Information vorerst neutral gegenüber, ist also viel gelassener. Eine dritte Möglichkeit: Die Frau spürt diesen Knoten seit langem, hat ihn aber einfach ignoriert, keine Zeit für den Arzt gehabt. Darauf gilt es in einem Gespräch Rücksicht zu nehmen.

STANDARD: Wie?

Silverman: Es geht erst einmal darum, sich die Sorgen der Menschen anzuhören. Bei den eben erwähnten Patientinnen hätte eine Frage nach dem Befinden genügt, um ihre Einstellungen zu erfahren. Wenn man sich als Arzt nach dem Befinden erkundigt, erzählen die Menschen einem ja etwas. Und genau das liefert Hinweise auf die Persönlichkeit. Es ist ein Wissen, dass die Gesprächszeit um bis zu zehn Prozent reduziert.

STANDARD: Was, wenn man das nicht macht?

Silverman: Werden Folgegespräche länger dauern – und vor allem: Patienten erleben den Arzt als nicht hilfreich.

STANDARD: Medizin ist mitunter trotzdem sehr kompliziert. Wie sehr kann man vom sozialen Background auf das Informationsbedürfnis schließen?

Silverman: Das geht nicht. Ich hatte in meiner Zeit als Arzt in ein und der selben Woche zwei Patienten, denen ich die Diagnose Diabetes mitteilen musste. Einer war ein Landarbeiter. Ich musste nicht viel sagen. Seine Mutter war Diabetikerin, er hatte sie bis zu ihrem Tod gepflegt und er wusste, worum es geht. Der andere Patient war ein Universitätsprofessor. Für ihn war das der blanke Horror. Generalisierungen sind nicht möglich.

STANDARD: Inwiefern erschweren die diversen Informationen aus dem Internet das Gespräch?

Silverman: Wir leben im Informationszeitalter, damit müssen auch wir Ärzte uns abfinden. Auch wir haben keine Kontrolle mehr darüber, wo sich die Menschen erkundigen. Was wir aber schon machen können: Wir können Patienten auf Websites hinweisen, die wir für gut und seriös erachten.

STANDARD: Zurück zum emotionalen Teil. Wer aufgeregt ist, kann Informationen schlechter aufnehmen. Sollten Ärzte wichtige Informationen häufig wiederholen?

Silverman: Wichtiger ist, dass Patienten Gehörtes wiederholen. "Sagen Sie mir, was Sie jetzt gerade verstanden haben?": Mit dieser Frage eines Arztes an seinen Patienten ist das relativ leicht zu erreichen. Außerdem ergibt sich dadurch auch gleich ein Gespräch, man schafft eine gemeinsame Basis. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass auf diese Weise der Informationsaustausch um 30 Prozent effizienter wird. Ärzte tendieren oft zum Dozieren. Da schalten Patienten nach spätestens zehn Minuten ab. Insofern ist Interaktivität in der Arzt-Patienten-Kommunikation der Schlüssel zum Erfolg.

STANDARD: Als Patient denkt man gerne, Ärzte wüssten alles. Das stimmt aber nicht. Wie sollen Ärzte damit umgehen?

Silverman: Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass Patienten mein Nichtwissen nicht irritiert. Wir leben in einer Welt voll Unsicherheiten, warum sollte das in der Medizin anders sein. Vor allem jüngere Ärzte haben ein Problem damit. Ältere und erfahrene Mediziner tun sich leichter ihr Nichtwissen zuzugeben.

STANDARD: Genau das ist aber wohl sehr schwierig, wenn es um Leben und Tod geht. Also wenn es keine Therapiemöglichkeiten mehr gibt, oder?

Silverman: Wer einen guten Kontakt zum Patienten hat, wenn es Vertrauen gibt, der kann auch schwierige Botschaften überbringen, kann das damit verbundene Schweigen aushalten. Vor allem ist es ja nicht so, dass wir nichts mehr tun können. Wir können Patienten ja weiterhin unterstützen, nur Heilung ist nicht mehr möglich.

STANDARD: Oft wird Empathie als eine Art Schlüsselkompetenz genannt. Was halten Sie davon?

Silverman: Empathie kann Mediziner schon in die Zwickmühle bringen. Denn ursprünglich funktioniert Empathie oft auf einer nonverbalen Ebene. Zwischen Arzt und Patient sind tröstende Blicke oder Umarmungen aber nicht möglich. "Ja, ich verstehe dass das schwierig ist", ist ein wichtiger Satz, der Empathie ausdrückt. Er spiegelt Verständnis. Um diese kognitive Art der Empathie geht es.

STANDARD: Welchen Rat haben Sie für Patienten?

Silverman: Eine Frageliste machen. Diese Listen mögen zwar viele Ärzte nicht so gerne, aber es gibt Untersuchungen, die eindeutig belegen, wie hilfreich solche Listen sind. Einerseits im Sinne der Vorbereitung: Patienten überlegen sich, was sie wissen wollen. Andererseits aber auch im Gespräch, weil man immer wieder nachschauen kann, vor allem dann, wenn einen die Emotionen ablenken. (Karin Pollack, 13.10.2016)