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Leben und Leiden unter dem "Islamischen Staat": Im Juli 2014, einen Monat nach der Eroberung, zerstörten die Extremisten den Schrein des Propheten Jonas (oben in einem historischen Bild von 1932).

Foto: AP / American Colony Photo Department

Die Gefühlslage eines Menschen, der eine militärische Offensive auf seine von Terroristen besetzte Heimatstadt erwartet, lässt sich nur unzureichend beschreiben – auf alle Fälle liegt sie zwischen sehr großer Angst und sehr großer Hoffnung: Rasha al-Aqeedi, 34 Jahre alt, aus Mossul, durchlebt diese Gefühle in Dubai, wo sie im Al-Mesbar Center, einem Thinktank, arbeitet.

Ihre Eltern sind vor dem "Islamischen Staat" in den kurdischen Teil des Irak geflohen, erzählt sie dem STANDARD, aber ein Teil der Familie ist in der Stadt geblieben. Und da gibt es nicht nur die Angst, wie sie die Kämpfe überstehen werden, es ist auch die große Frage, was danach passieren wird.

"Wer schreibt heute als Erster, dass sich die armen Bewohner von Mossul vor ihren Befreiern fürchten müssen?", höhnt sinngemäß ein arabischer Twitterer. Einstweilen ist es ein Krieg der Narrative, der Erzählweisen, der für die Bewohner von Mossul jedoch schnell blutiger Ernst werden könnte: Haben nun die "Moslawis", die Mossuler, den "Islamischen Staat" im Juni 2014 wirklich mit offenen Armen aufgenommen – und sind sie demnach selbst Terroristenfreunde und Verräter?

Auch wenn es oft als antischiitische Propaganda abgetan wird, wie vom oben zitierten Twitterer, so kann doch niemand ernsthaft bestreiten, dass es radikale schiitische Kräfte gibt, die am liebsten alle arabischen irakischen Sunniten in den IS-Topf schmeißen würden. Übergriffe auf die sunnitische Zivilbevölkerung durch schiitische Milizen beim Kampf gegen den IS sind dokumentiert.

Premier Haidar al-Abadi, der sich des Problems bewusst ist und immer wieder darauf pocht, dass allein die irakische Armee in Mossul einmarschieren sollte, ist viel zu schwach, um alle Vorgänge zu kontrollieren. Was werden die Moslawis machen: womöglich aus Angst vor Rache für ihre angebliche Kollaboration dem IS helfen? Nicht nur vor den Kämpfen, sondern auch vor ihren Befreiern flüchten?

In den Häusern ausharren

Rasha al-Aqeedi glaubt, dass viele Einwohner Mossuls in ihren Häusern ausharren werden, gemäß ihrer Lebenseinstellung "Auch das werden wir überstehen." Das schließt einen militärischen Verlauf aus, wie er in Ramadi und Falluja, den beiden bereits vom IS befreiten großen irakischen Städten zu beobachten war. Dort war es ein Luftkrieg gegen von Zivilisten weitgehend evakuierte Städte, die der IS nach und nach aufgab.

Mossul hatte, bevor der IS kam, zweieinhalb Millionen Einwohner. Der IS, sagt Rasha al-Aqeedi, wird diesmal aber nicht einfach verschwinden, und er wird auch nicht in der Bevölkerung aufgehen können, die IS-Gesichter sind viel zu bekannt. Vielleicht zieht er sich in einen Stadtteil zurück und versucht, diesen zu halten? Das wäre ein günstiger Kriegsverlauf, denn das würde auf eine Trennung zwischen Zivilisten und IS-Milizionären hinauslaufen.

Was wird es für den IS bedeuten, in Mossul geschlagen zu werden? Al-Aqeedi macht darauf aufmerksam, wie der IS die frühislamische Geschichte benützt, um für sich selbst seine Niederlagen zu transzendieren: Es war stets ein Auf und Ab, aber am Ende steht der Sieg. Nein, der IS wird auch nach Mossul nicht tot sein.

Ungewöhnlich und verwirrend sind die militärischen und politischen Präliminarien der Offensive: Da wird doch tatsächlich ein konkretes Datum, der 19. Oktober, Mittwoch nächster Woche, genannt. Psychologische Kriegsführung? Kompliziert wird derzeit alles durch die türkische Entscheidung, ihre militärische Präsenz in Bashiqa bei Mossul, die 2015 als "Trainingsmission" etikettiert wurde, trotz entsprechender Aufforderungen Bagdads nicht aufzugeben. Als ob das Gemisch aus irakischer Armee, US-Beratern, sunnitischen Stammesmilizen, schiitischen Milizen und ihren iranischen Beratern nicht schon kompliziert genug wäre.

Im Irak ist nicht vergessen, dass die Türkei nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches lange den Anspruch auf Mossul, das erst 1926 endgültig dem Irak zugeschlagen worden war, aufrechterhielt. In Aleppo können die Türken nach ihrer Versöhnung mit Russland nicht mehr mitmischen, also probieren sie es in Mossul, sagen viele Araber.

Der Winter naht

Dennoch hofft Rasha al-Aqeedi schon allein deshalb auf einen absehbaren Beginn der Offensive, weil mit fortschreitendem Herbst die Verhältnisse immer schwieriger werden, besonders für die Flüchtlinge. Auch sie leugnet nicht, dass es Kollaborateure in der Stadt gibt, sie erzählt von einem Arzt und einem Apotheker, die sie selbst kennt: "Aus guten Familien, wir waren schockiert. Es bleibt ein Mysterium, warum die das tun", meint sie.

Als Wissenschafterin hat sie jüngst einen Artikel geschrieben, erschienen in "The American Interest", in dem sie für Verständnis für die Stadt und ihre Einwohner wirbt. In "The Once and Future Mosul" nennt Al-Aqeedi Mossul die "selbstvergessenste" der irakischen Städte, was die demografischen Realitäten betrifft, die Saddam Hussein vor seinen sunnitischen Landsleuten ganz einfach leugnete: die schiitische Bevölkerungsmehrheit.

Autoritäre Regime schrieben oft die Geschichte im Sinn ihrer politischen Agenda um, so Aqeedi: Aber das irakische Regime ging weit darüber hinaus, indem es einfach so tat, als gäbe es die schiitische Identität nicht. Als nach dem US-Einmarsch und Saddams Sturz 2003 die verleugnete Gruppe über Nacht politisch aufstieg, begleitet von Manifestationen ihres "mysteriösen, opaken, fremden Islam", wurde dies als "eine Art Verschwörung gegen die Sunniten" wahrgenommen.

In Mossul, schreibt Al-Aqeedi, "in einer von Sunniten dominierten Stadt weitab von der Zentrale Bagdad, fiel es leicht zu glauben, dass das neue Regime eine historische Merkwürdigkeit sei, die wieder verschwinden würde". Wie alles andere, das Mossul schon erlebt hatte. Das war aber nicht der Fall, und darüber hinaus war das Verständnis der religiösen Schiiten, die unter Saddam verfolgt worden waren, für die sunnitischen Anpassungsschwierigkeiten enden wollend.

Xenophons Mepsila

Mossul (Mepsila) wird als kleine assyrische Stadt erstmals 400 v. Chr. von Xenophon erwähnt, bei Ninive am Tigris gelegen, das bis etwa 600 wohl die größte Stadt der Welt war. In Mossul lebt von jeher ein Völker- und Religionsgemisch, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Zentrum des ausgehenden Panarabismus wurde. Wenn Mossul heute oft als Stadt der Militärs des Baath-Regimes von Saddam Hussein charakterisiert wird, so ist zu sagen, dass es schon unter den Osmanen eine Offiziersstadt war – gerade deshalb florierten ja die arabischen Geheimbünde.

Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde Mossul von einer Hungersnot heimgesucht, gefangen zwischen britischen und osmanischen Interessen – und Opfer der Versorgungsbedürfnisse der türkischen Armee (andere Städte hungerten, weil die Briten ihre Garnisonen fütterten). Das Leiden und Sterben gehört zum kollektiven Gedächtnis. Aber der tiefste Einschnitt der jüngeren Geschichte war die blutige Niederschlagung der nationalistischen Revolte von 1959 gegen General Qassem, der 1958 die Haschemitenmonarchie gestürzt hatte – und sich aus Sicht nicht nur der irakischen Nationalisten, sondern auch des Westens in Richtung Kommunismus bewegte.

Soziale Hierarchien

Es gibt eine berühmte Beschreibung der Ereignisse in Mossul: Der Soziologe Hanna Batatu schildert in seinem Standardwerk über Klassen und Revolution im Irak, wie im Laufe des Konflikts zwischen Nationalisten und Kommunisten jede andere nur erdenkliche Bruchlinie – religiös, ethnisch, tribal, sozial, geografisch – im sozialen Gefüge Mossuls aufbricht. Auch Al-Aqeedi erwähnt Hierarchien etwa bei Christen und Turkmenen in der Stadt und an der Peripherie.

Irgendwie haben sich die Mossuler angesichts der Anfechtungen von innen und außen wohl in sich zurückgezogen. "Widerstandsfähigkeit" angesichts wechselnder historischer Prüfungen schreibt Al-Aqeedi den Mossulern zu, aber auch "stählerne, hermetische Gleichgültigkeit": die hoffentlich nach den Jahren unter dem IS endgültig abgelegt werden wird. Das "Kalifat" müsse zum "Nie wieder" Mossuls werden, appelliert sie – im Gegenzug für das Vertrauen, dass die allermeisten Moslawis sehnlichst erwarten, vom IS befreit zu werden. (Gudrun Harrer, 15.10.2016)