Autor Reinhard Kaiser-Mühlecker.

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Nicht das intellektuelle, sondern das gefühlsmäßige Durchdrungensein sei Voraussetzung für das Entstehen von Literatur, schreibt Reinhard Kaiser-Mühlecker in einem Beitrag für den eben erschienenen Sammelband Zwischen Schreiben und Lesen (Klever-Verlag), in dem sich verschiedene Autoren mit den Voraussetzungen nicht nur des eigenen literarischen Schaffens auseinandersetzen. "Es ist nicht wichtig", so der 1982 im Traunviertel geborene Autor weiter, "wovon man durchdrungen ist; es muss nicht unbedingt ein Ort sein, eine Gegend, ein Menschenschlag, es kann genauso gut ein Gedanke sein, ein Gefühl, irgendeine Sache. Nur eines ist wichtig: dass man sich auflöste, oder sicher ist, sich auflösen zu müssen, (…) würde es fehlen. Ist es nicht gegeben, oder nicht wahrhaftig gegeben, hilft kein noch so großer Wortschatz, keine noch so virtuose Beherrschung der Grammatik. Es: Besessenheit. Es: Einssein mit Schrift im Augenblick des Schreibens, und noch davor."

Kaiser-Mühlecker bezieht in diesen Sätzen – die auf die Dringlichkeit des Schreibens ebenso pochen wie auf den Widerstand, den Literatur den Zentrifugalkräften des Verschwindens entgegensetzen kann – eine ästhetische Position, die weit weg liegt von den schnörkellosen, knackigen und schnellen literarischen Produkten der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur, die in den Marketingabteilungen mancher Verlage als so marktgängig gilt.

Trügerische Stille

Oberflächliche Effekte sind Kaiser-Mühleckers Sache tatsächlich nie gewesen, vielmehr interessieren ihn in seinem Werk, das mittlerweile sechs Romane, einen Erzählband sowie ein Theaterstück umfasst, Tiefenstrukturen – und Atmosphäre. Kein Lärm ist in seinen Büchern zu vernehmen, es herrscht trügerische Stille, und Geschwindigkeit spielt nur insofern eine Rolle, als die Zeit in dieser Prosa nicht kontinuierlich fließt, sondern sich unversehens beschleunigt, oder fast bis zum Stillstand gedehnt wird. Einem Stillstand, oder besser Kipp-Punkt, an den viele der in spiralförmig drehende Lebenssuchbewegungen verstrickten Figuren dieses Autors gelangen, der sich seit seinem Debüt Der lange Gang über die Stationen (2008) durch eine kraftvolle, gemessen voranschreitende, unaufgeregte Sprache auszeichnet, die nicht Wirklichkeit abbildet, sondern sprachlich eine neue Realität schafft.

All das und der Umstand, dass seine Romane, obwohl sie auch in Argentinien, Bolivien oder im Kosovo spielen, immer wieder in das oberösterreichische bäuerliche Milieu blenden, wobei dabei kein Glück im Winkel propagiert und kein Unglück im Winkel unterschlagen wird, hat Kaiser-Mühlecker zuweilen den an einen Vorwurf grenzenden Ruf eingebracht, ein Unzeitgemäßer zu sein. Oder vielleicht doch eher ein Zeitloser, wie manche meinen?

Der Schriftsteller, der Eberstalzell, wo er auf dem elterlichen Hof aufwuchs, früh Richtung Wien und Schweden verließ und für den Schreiben auch bedeutet, "Satz für Satz das Nicht-sagen-Können zu überwinden", kümmert sich wenig um derlei Zuschreibungen oder Vorgaben. Unbeirrt variiert er in seinen Büchern Themen wie zum Beispiel existentielle Verlorenheit, Sehnsucht nach Flucht und Aufbruch sowie das Motiv der fragilen Zweisamkeit von Frau und Mann oder der Familie, ihrer Abgründe und Geheimnisse vor allem.

Das ist in Kaiser-Mühleckers neuem Roman Fremde Seele, dunkler Wald nicht anders, in dem die Geschichte zweier von einem Traunviertler Hof stammender Brüder erzählt wird. Der Ältere, Alexander, ist in seinen Dreißigern. Wie die Schwester der beiden, die den Hof früh verließ, ist er ein Suchender, der zunächst im Stiftsgymnasium von K. Gott sucht, dann im Wiener Studentenleben auch nicht glücklich wird und schließlich nach dem Präsenzdienst eine Armeekarriere beginnt. Am Anfang des Buches, das zwei, drei Jahre vor und während der Ukrainekrise spielt, dient Alexander im österreichischen Kontingent der KFOR-Truppen im Kosovo, am Ende des Romans im Verteidigungsministerium in Wien.

Jakob, der Jüngere, ist anfänglich erst 15, und er wäre, nachdem er die Schule abgeschlossen hat, nicht abgeneigt, den elterlichen Hof zu übernehmen – zumal ihn der Vater kaum mehr bewirtschaftet, sondern versucht, sein Geld mit dubiosen Investitionen in windige Projekte zu verdienen. Jakob, der lange schon alle Arbeit auf dem Hof verrichtet, bemüht sich allerdings vergebens. Denn der übermächtige Großvater, der im Verlauf des Buches stirbt, wobei dessen Witwe sein beträchtliches Vermögen einer einschlägigen Partei vermacht (das Geld soll mithilfe einer anderen Partei in den 1940er-Jahren gemacht worden sein), hält ihn wie den Vater, der den Hof übernahm, an der kurzen Leine. Obwohl Hektar um Hektar, Tier um Tier verkauft werden müssen, sieht der Großvater ungerührt zu, wie der Familienhof den Bach runter geht.

Für Jakob stellt sich damit die im Werk Kaiser-Mühleckers zentrale Frage nach dem Bleiben oder Gehen. Letzteres schafft Jakob im Gegensatz zu Alexander vorerst nicht, er verfällt in Sinnlosigkeitsgefühle, die durch eine fatale Beziehung zur ebenfalls sehr jungen Nina und der Geburt eines Kindes nicht kleiner werden. Sein Bruder wird gleichzeitig aus anderen Gründen in eine Lebenskrise geraten.

Auf- und Abbrüche

Zahlreiche Spiegelungen und Doppelungen sind in diesem in der Er-Form abwechselnd aus der jeweiligen Perspektive der Brüder erzählten Roman angelegt, der voller Auf- und Abbrüche und schicksalshafter Verknüpfungen ist. Wobei der Autor das Geschehen nicht nur an der Familienachse spiegelt, es wird auch mit außenstehenden Figuren verknüpft. Etwa mit Markus, einem älteren Freund und Vorbild Jakobs, der in den Freitod geht, oder mit Elvira, der Anführerin einer Urchristensekte, die in der Gegend nicht wohlgelitten ist und in Verdacht gerät, etwas mit einem Mord in der Region zu tun zu haben. Auch über Jakob sind plötzlich Gerüchte im Umlauf, nämlich dass er gar nicht der Vater des Kindes sei und etwas mit Markus’ Freitod zu tun habe.

Es ist ein komplexes Netz von Handlungsfäden, das Reinhard Kaiser-Mühlecker in diesem Roman auswirft, der beiläufig politische, soziale, militärische und – was die zunehmenden Konzentrationsprozesse nicht nur in der Landwirtschaft betrifft – ökonomische Gewaltstrukturen thematisiert. Kierkegaard schrieb, die Wiederholung sei jene Kategorie, die es im Leben zu entdecken gelte, wolle man Zusammenhänge erkennen. Von solchen unsichtbaren Zusammenhängen spricht auch vorliegender Roman, der zwar im ländlichen Oberösterreich angesiedelt ist, aber vom großen Ganzen handelt. (Stefan Gmünder, 15.10.2016)