Im Herbst 1956 kämpften ungarische Studenten in Budapest gegen die Bevormundung aus Moskau – und gegen die sowjetische Armee.

Foto: Tyrolia-Verlag / Erich Lesing

Gemeinsam mit dem Fotografen Erich Lessing publizierte Michael Gehler 2015 das Buch "Ungarn 1956 – Aufstand, Revolution und Freiheitskampf in einem geteilten Europa".

Foto: Tyrolia-Verlag / Erich Lessing

STANDARD: Die gescheiterten Freiheitsrevolutionen in Mittel- und Osteuropa hatten unterschiedliche Vorgeschichten. In der DDR 1953 war der Protest gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen der Auslöser, beim Prager Frühling 1968 spielte die reformkommunistische Führung eine zentrale Rolle. Wie war es 1956 in Ungarn?

Gehler: In Ungarn war es ein Aufstand der Intellektuellen und Studenten. Parallel gab es auch in rumänischen Städten und im polnischen Posen Forderungen der Studenten nach Pressefreiheit, Reisefreiheit, westlicher Forschungsliteratur. Die Studenten der Technischen Universität Budapest solidarisierten sich mit den Kollegen in Posen. Ein weiterer Hintergrund war die Entstalinisierung, die durch Chruschtschow und die Abrechnung mit den Verbrechen Stalins eingeläutet wurde.

STANDARD: Nur eineinhalb Jahre zuvor war in Wien der österreichische Staatsvertrag unterzeichnet worden. Welche Rolle spielte das im Vorfeld der Proteste im Nachbarland Ungarn?

Gehler: Der Truppenabzug aus Österreich, der mit dem Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 fixiert wurde, wurde von ungarischer Seite sehr stark wahrgenommen. Der Friedensvertrag von 1947 hatte die sowjetischen Einheiten in Ungarn als Verbindungstruppen für die Zeit bezeichnet, in der die sowjetischen Truppen noch in Österreich stehen. Er sah praktisch den Abzug aus Ungarn vor, sobald der Abzug aus Österreich erfolgen würde. Es ist daher kein Zufall, dass man nur einen Tag vor der Unterzeichnung des Staatsvertrags, also am 14. Mai 1955, den Warschauer Pakt gegründet hat, der die sowjetischen Einheiten in Ungarn als befreundete, dauerhaft stationierte Truppen regelte. Daher ist es auch kein Wunder, dass Ministerpräsident Imre Nagy (Ministerpräsident während des Aufstands, 1958 hingerichtet, Anm.) später im Zuge des Ungarnaufstands den Austritt aus dem Warschauer Pakt und eine Neutralität nach dem österreichischen Modell forderte.

STANDARD: Am 24. Oktober, einen Tag nach Beginn der Proteste, waren bereits sowjetische Truppen in Budapest. Waren das Soldaten, die ohnehin im Land waren, oder bekamen sie rasch Verstärkung aus der Sowjetunion? Und wie war die Haltung der anderen Staaten des Warschauer Pakts?

Gehler: Es waren überwiegend in Ungarn stationierte Verbände der sowjetischen Armee, die in Budapest eingerückt sind, verstärkt auch durch ungarische Truppen. Allerdings gab es auch entsprechende Treffen Chruschtschows mit Vertretern anderer Staaten des Warschauer Pakts – und auch mit Tito. Das heißt, es gab hier einen weitgehenden Konsens, aber an der militärischen Niederwerfung selbst waren hauptsächlich sowjetische und anfangs zum Teil ungarische Einheiten beteiligt. Man muss auch sehen, dass der Warschauer Pakt 1956 noch sehr jung war. Es war mehr ein Vertrag als jene fest institutionalisierte Einrichtung, die er erst in weiterer Folge wurde.

STANDARD: Auf der Konferenz des "Forum Mitteleuropa" in Budapest haben Sie kürzlich auch auf die Suezkrise hingewiesen, die etwa zur selben Zeit stattfand. Welche Rolle spielte sie für den Ungarn-Aufstand?

Gehler: Als der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser die Suez-Kanal-Gesellschaft verstaatlichen wollte, in der die Briten und die Franzosen Anteile innehatten, einigten sich britische und französische Diplomaten bei einem geheimen Treffen auf eine Militäroperation gemeinsam mit Israel. Es war eine globale Krise. Die Sowjets, die die Verstaatlichung des Suezkanals durchaus unterstützten, drohten sogar mit dem Einsatz von Atomwaffen. Die Amerikaner wiederum hatten kein Interesse daran, dass die alten Kolonialmächte ihre Position weiter festigen, und übten massiven diplomatischen Druck aus. Briten und Franzosen mussten sich schließlich zurückziehen. Die Ungarn-Krise geriet in den Schatten der Suezkrise, die Weltöffentlichkeit wurde abgelenkt von den Hoffnungen der ungarischen Freiheitskämpfer. Aber meine These ist: Auch ohne Suezkrise hätte sich am Ost-West-Konsens von Jalta, an der Einteilung der Welt in Einflusssphären, wohl nichts geändert.

STANDARD: Im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 spricht man häufig von einer Krise der westeuropäischen Linken, insbesondere der Kommunisten, von denen sich dann viele von Moskau abgewendet haben. War das 1956 auch schon zu beobachten?

Gehler: Meiner Meinung nach wurde diese Frage von der Forschung bisher viel zu wenig untersucht. Ich glaube aber, dass die Kommunikations- und Legitimationskrise des nachstalinistischen Sozialismus bereits 1956 greifbar war. Das Bild des Panzerkommunismus, den wir vor allem im Zusammenhang mit Prag vor Augen haben, hat sich in Budapest 1956 bereits voll und ganz manifestiert. Die Sowjets waren mit über 1.000 Panzern und knapp 32.000 Mann in Budapest.

STANDARD: Wie muss man sich eigentlich das Ende der damaligen Kampfhandlungen vorstellen? Gab es da regionale Unterschiede?

Gehler: Der Widerstand der Gruppe rund um Gergely Pongrátz in der Corvin-Passage hat sich über Tage hingezogen, das ging bis 8. oder 9. November. In dieser Passage, die auch strategisch günstig lag, wurde ein Dutzend sowjetischer Panzer außer Gefecht gesetzt. Auch in anderen Städten Ungarns wurde weiter Widerstand geleistet, in entlegenen Regionen auf dem Land ging das zum Teil sogar bis in den Jänner 1957. In Budapest war aber der Aufstand bereits Mitte November vorbei, und damit war die Hauptbastion gefallen. Denn aus der Geschichte wissen wir: Revolutionen finden in Städten statt, und dort werden letztlich auch die Entscheidungen getroffen.

STANDARD: Haben die Niederschlagung des Aufstands und die Zeit danach ein Klima begründet, das die heutige politische Situation in Ungarn mitprägt?

Gehler: Man kann das, glaube ich, schön an der Rolle Gergely Pongrátz’ verdeutlichen, des Befehlshabers der bekanntesten Rebellengruppe. Er konnte 1957 in die USA fliehen und kehrte erst 1991 nach Ungarn zurück. Von den Entwicklungen im Land war er aber enttäuscht – vor allem von der anhaltenden Präsenz früherer Kommunisten in der Staatsverwaltung, in der Wirtschaft und im öffentlichen Leben. Pongrátz (später ein Gründer der rechtsextremen Partei Jobbik, Anm.) vertrat dann immer mehr nationalistische Positionen. Vom Ungarnaufstand bleibt für viele außerdem die Enttäuschung über den demokratischen Westen. Sie stellen sich die Frage: Was hat der Westen denn 1956 eigentlich getan? Wollte er überhaupt etwas tun? Mit Blick auf den Westen spielen ja Enttäuschung und Frustration auch heute noch eine Rolle.

STANDARD: Was bedeutet das heute für den Umgang mit 1956?

Gehler: Es ist auffallend, dass in den vergangenen Tagen und Wochen seitens der Politik relativ wenig auf diesen Freiheitskampf Bezug genommen wurde. Und wenn, dann wird betont, wie freiheitlich man damals war. Das äußert sich dann etwa darin, dass man sich von der EU nicht zu viel vorschreiben lassen will, denn man sieht sich als freiheitsliebendes Volk, das sich bereits für die Demokratie eingesetzt hat, als es noch unter sowjetischer Knute hinter dem Eisernen Vorhang schmachtete. Andererseits hören wir von Kollegen an ungarischen Universitäten, dass sie Probleme haben, wenn es um unliebsame Themen wie etwa die Rolle der rechtsgerichteten paramilitärischen Verbände in der Zwischenkriegszeit geht. Es gibt relativ wenig Bereitschaft, solche Forschungsprojekte zu unterstützen. Manchen Kollegen wird auch gedroht, dass sie ihren Job verlieren, wenn sie die Stellung der Roma und Sinti aufarbeiten wollen. Das ist eine merkwürdige Gemengelage.

STANDARD: Wirkte der Aufstand 1956 auch in die Umwälzungen des Jahres 1989 hinein?

Gehler: Trotz der Niederlage war der Aufstand langfristig betrachtet ein moralischer Sieg der Freiheit. 1988/1989 konnte man sich auf den Aufstand berufen. Das hat 1988 auch die kommunistische Partei zum Einlenken veranlasst. Imre Nagy wurde rehabilitiert, bei seiner Umbettung kam es zu Massenkundgebungen. Die vorrevolutionäre Erfahrung von 1956 hat 1988/1989 also zum friedlichen, zwischen Regime und Opposition paktierten Übergang beigetragen. (Gerald Schubert, 22.10.2016)