Nach jüngeren Forschungen fielen rund 300.000 Menschen der von den Nationalsozialisten beschönigend "Euthanasie" genannten Mordmaschinerie "Aktion T4" und den nach 1941 dezentral organisierten Tötungseinrichtungen zur Vernichtung "unwerten Lebens" zum Opfer. Nach vorsichtigen Schätzungen leben damit aktuell zehn Millionen mit den Opfern in direkter Linie verwandte Menschen in Deutschland und Österreich.

Spätestens bei diesen Zahlen "werden die Dimensionen der von den Euthanasieverbrechen Betroffenen langsam erahnbar", schreibt Bernhard Gitschtaler im Vorwort zu seinem Anfang Oktober erschienenen Buch. Der Politikwissenschafter und Sozialarbeiter geht der Frage nach, wie die Verbrechen bis heute nachwirken. Gerade die Angehörigen dieser Opfergruppe stünden vor enormen emotionalen und psychisch belastenden Aufarbeitungsschritten.

Die Ermordung von Verwandten sei in vielen Familien lang verschwiegen worden. Aus Scham oder aus Schuld: "Nicht selten stellt sich heraus, dass angehörige Vorfahren oder andere Verwandte bei der Ermordung oder zumindest der Einweisung der Patienten aktiv beteiligt waren." Gitschtaler, der seine Forschungsarbeit vom Verein "Erinnern Gailtal" in Kärnten ausgehend auf ganz Österreich ausgedehnt hat, lässt erstmals auch Betroffene zu Wort kommen. Ein wichtiger Teil des Bandes ist Interviews gewidmet, in denen die Traumatisierungen der nachfolgenden Generation(en) greifbar werden.

Neben diesen "familiären Begleitprozessen" schwingt in Gitschtalers Buch eine zweite, nicht minder beklemmende Ebene mit. Es geht um jene Prozesse, in denen Menschen einer ökonomischen Kosten-Nutzen-Rechnung unterworfen werden. Und plötzlich stehen Themen wie die Finanzierung von Pflegeeinrichtungen, Hospizen, aber auch Fragen der Reproduktionsmedizin im Raum. (Thomas Neuhold, 18.10.2016)