"Ich weiß so gut wie nie, warum ich schreibe, was ich schreibe, denke, was ich denke, und fühle, was ich fühle": Karl Ove Knausgård.


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Ich höre Led Zeppelin. Ich höre sie, seit mein Bruder mir Physical Graffiti vorspielte, da war ich acht Jahre alt. So ist das mit all der Musik, die ich höre, entweder habe ich sie vor meinem zwanzigsten Lebensjahr kennengelernt, oder sie hört sich so an wie die Musik von damals. Gegenüber dem anspruchsvolleren musikalischen Niveau, das sich in klassischer Musik, der neuen Musik und in gewissem Maß auch im Jazz findet, bin ich ein Ignorant. So gern ich auch sagen würde, dass mir Bach, Brahms, Beethoven, Mozart oder Schönberg gefallen, ich kann es nicht. Solche Musik lasse ich zwischendurch laufen, aber sie sagt mir nichts, ich könnte ebenso gut auf dem Küchenfußboden sitzen und der Spülmaschine zuhören. So ist das mit nahezu allen Dingen, im Grunde bin ich ein eher anspruchsloser Mensch. Musik spiele ich, um den Takt dazu zu schlagen, ich esse, um satt zu werden, ich trinke Wein, um betrunken zu werden, und Filme sehe ich, um unterhalten zu werden. Das hat nichts mit Koketterie zu tun, denn ich wünschte wirklich, es wäre anders. Der einzige Bereich in meinem Leben, in dem ich einen gewissen Grad an Anspruch erreicht habe, hat mit Literatur zu tun. Die Literatur, die ich als Sechzehn-, Siebzehnjähriger gelesen habe und die mich innerlich entflammt hat, ist heute für mich so gut wie unlesbar.

Jens Bjørneboes Bücher gehören in diese Kategorie, auch Agnar Mykles. Sylvia Plath. Jack Kerouac, Hermann Hesse, Ola Bauer, um ein paar Namen zu nennen. Das hat nichts mit Qualität zu tun, sondern mit Orientierung, damit, welche Fragen relevant sind, und der seltsamen, aber dennoch gültigen Regel, dass der literarische Wert abnimmt, je relevanter die Thematik ist.

Miserable Texte

Einmal habe ich am Aktionstag für inhaftierte Schriftsteller bei einem PEN-Treffen in Malmö gelesen. Ich las den Text eines ägyptischen Autors, während ein paar Schriftsteller, die auch in Malmö wohnten, Texte von anderen misshandelten und inhaftierten Autoren lasen. Allen Texten war gemein, dass sie rein menschlich gesehen über fürchterliche Dinge berichteten, deren Veröffentlichung zweifellos wichtig war, zumal es sich um reale Menschen mit realen Familien handelte, die in einer für uns unvorstellbaren Weise litten. Literarisch gesehen waren sie jedoch schwach. Ja, die meisten Texte, die an diesem Abend gelesen wurden, waren ganz einfach miserabel.

Ich habe lange darüber nachgedacht, warum das so war. Es lag vermutlich daran, so überlegte ich, dass die Situationen, die beschrieben wurden, all diese Übergriffe, all diese Misshandlungen von vornherein klar waren. Es gab keinen Zweifel. Und ohne Zweifel keine Literatur. Literatur sucht die Komplexität, selbst in ihren Vereinfachungen. Das ist das eine. Das andere ist, dass diese alles umfassenden Situationen, die mit ihrem grellen Licht alles ausblenden, sprachlich nur von den allergrößten Begabungen festgehalten werden können und vielleicht nicht einmal von denen, ohne dass die beschriebenen Situationen reduziert und damit unwahr werden.

Zwei der Texte, die im Victoria-Theater von Malmö gelesen wurden, waren allerdings gut. Der eine stammte von einer Russin und handelte von der Situation in einem Frauengefängnis. Erst ging es um die eigentliche Zelle, dann um die verschiedenen Formen, wie die Frauen durch die Zellenwände miteinander in Kontakt traten: durch Klopfen und Rufe, bei denen unterschiedliche Codes benutzt wurden. Und es ging darum, wie sie mit ihrer ferneren Umgebung in Kontakt kommen konnten: Briefe wurden verschiedenen Kurieren anvertraut, alles in einem System, in dem die Frauen nie wussten, wem sie vertrauen konnten. Der Weg zum Verrat war in dieser gnadenlosen Welt ebenso kurz wie die Sehnsucht nach Vorteilen. Der Text handelte nicht von Misshandlungen, sondern von den Lebensumständen, in denen diese Misshandlungen stattfanden, von den verzwickten, beinahe labyrinthischen Möglichkeiten des menschlichen Kontakts an diesem Ort.

Der zweite Text von großer Qualität wurde von Lukas Moodysson gelesen, geschrieben hatte ihn der koreanische Dichter Ko. Das einzig wirklich Entsetzliche für jenen sei gewesen, so Moodysson in seiner Einleitung, dass ihm jeglicher menschlicher Kontakt verweigert worden sei. Er war absolut, vollkommen, ganz allein. Der letzte Mensch. Er beschloss, ein Gedicht über jeden einzelnen Menschen zu schreiben, den er in seinem Leben getroffen hatte, wenn er je wieder freigelassen würde. Tatsächlich wurde er aus dem Gefängnis entlassen und begann mit der wahnsinnigen Aufgabe, die er sich auferlegt hatte. Diese Gedichte waren fantastisch.

Auf den ersten Blick geht es also darum, dass das Ethische und das Ästhetische zwei unvereinbare Größen sind. Dass es nicht möglich ist, gut über das Böse zu schreiben. Aber das ist nur der erste Blick. Denn wenn wir uns über all die Übergriffe entsetzen, die auf der Welt passieren, ergötzen wir uns in gewisser Weise auch daran, schließlich sind wir gegen Folter, Übergriffe und Diktatur; wir preisen die inhaftierten und oft genug auch getöteten Autoren, unser Sich-Weiden an ihren und ihrer Familie Leiden ist so schlicht und leider auch so banal, denn wenn das Böse schon banal ist, ist es das Gute in dieser Form ganz bestimmt. "Ich mag Unterschiede", hieß es in einer Kampagne gegen Einwanderungsfeindlichkeit in Schweden im letzten Herbst, die angesichts der großen Zustimmung für die fremdenfeindliche Partei der Schwedendemokraten angestoßen worden war.

Aber was ist denn das "Unterschiedliche", wenn alle es mögen? Es ist das Gleiche. Also ist es eine Lüge. "Ich mag Gleichheit", müsste es heißen. So verhält es sich mit allen Kampagnen gegen das Böse. Wir haben Christus vergessen, das Unerhörte in seinem Wort, auch die andere Wange hinzuhalten, das Unerhörte der Vergebung, diese enorme, aber auch selbstzerstörerische Kraft der Vergebung – und wie alle Menschen und alles Menschliche darin verbunden sind. Alle Schriftsteller, die ihren Namen wert sind, wissen das; ein Roman oder ein Gedicht, der oder das davon nichts weiß, ist ein schlechter Roman oder ein schlechtes Gedicht, denn nur hier, nur in diesem Sinn sind das Ethische und das Ästhetische ein und dasselbe.

Vergebung für alle.

Ich weiß so gut wie nie, warum ich schreibe, was ich schreibe, denke, was ich denke, und fühle, was ich fühle. Ein Zyniker wird über das, was ich gerade geschrieben habe, sagen, dass ich mich gegen die Vergebung wende, weil ich sie brauche. Ich habe etwas Falsches getan, ich leide darunter, das Falsche wird aufgehoben, wenn ich nur jemanden finde, der mir vergeben kann; das Motiv ist rational und vernünftig. Und es stimmt, ich habe immer das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, etwas Ernstes und nicht Wiedergutzumachendes, immer habe ich das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein, und dieses Gefühl lässt mich niemals zur Ruhe kommen. Immer werde ich davon gequält, vom morgendlichen Aufwachen bis ich abends wieder zu Bett gehe. Nicht auf eine großartig leidende Art und Weise, es ist eine generelle Missstimmung, die ständig in meinem Bewusstsein lauert und nicht bekämpft werden kann; egal, was ich tue oder lasse, sie ist da.

Gelächter und Leere

Könnte dieses Gefühl verschwinden? Könnte ich ganz einfach sagen, ja, ich glaube, um dann auf die Knie zu fallen und die Vergebung für alles entgegenzunehmen? Ich glaube nicht, also kann ich es nicht.

Aber das ist rein persönlich, es hat mit meinem Charakter zu tun, der sich offenbar bereits formte, als ich klein war und die Furcht vor meinem Vater immer auch in der Furcht bestand, etwas falsch gemacht zu haben, zumal alles falsch sein konnte. Es war falsch, die Tür zu fest zu schließen, es war falsch, die Tür nicht zu schließen. Es war falsch zu weinen, es war falsch zu lachen. Es war falsch zu antworten, es war falsch nicht zu antworten. Natürlich hat mich das geprägt. Das bedeutet aber nicht, dass das, was ich tue, nicht falsch ist, denn das ist es durchaus, es bedeutet nur, dass ich ausgesprochen empfindlich bin, was dieses Gefühl angeht, das mich nie in Ruhe lässt. Aber selbst wenn es sich so verhält, gebe ich dem Zyniker nicht recht, denn so wie ich es sehe, ist genau dies von geringerer Bedeutung, wenn es um die Vorstellung von Gnade als Idee oder Ideal geht. Der Zyniker lebt in einer praktischen Welt, für ihn ist alles Werkzeug und nichts ist heilig, das heißt, nicht heiliger, als dass man nicht darüber lachen könnte; und zu dieser Welt aus Gelächter und Leere existiert im Grunde nur eine Alternative, wenn man das Leben ernst nimmt. Und das sind der Glaube und das, worauf er verweist.

Im Kopf gebe ich dem Zyniker recht. Und wenn der Zyniker recht hat, sind wir frei, das heißt ohne jede Verpflichtung als jene, die wir selbst eingehen, freiwillig. Alle Verbote sind praktisch, um einen Wert zu bewahren, der jemandem einen Vorteil verschaffen kann, und sie können gebrochen werden, wenn man mit den Konsequenzen leben will oder kann, die die Grenzen des Sozialen beinhalten. Im schlimmsten Fall heißt das Gefängnis oder andere Formen des Ausgeschlossenseins.

Der Ort der Vogelfreien

Das Gewissen ist wie die Scham nichts anderes als ein gesellschaftlicher Steuerungsmechanismus, entwickelt, um die notwendigen Bedingungen für viele Menschen zu schaffen, Seite an Seite zu leben. Die Religion legitimierte die Schuld und das Gewissen, sie gab ihnen einen tieferen Grund und einen größeren Sinn, und das verstärkte zusätzlich unsere Bindungen. Ein Aufstand gegen das Gewissen wurde zu einem Aufstand gegen Gott, gegen den Sinn und den Grund des Universums. Das Gelächter darüber war ein teuflisches Gelächter.

Nun glauben wir nicht mehr länger an Gott, also lautet die Frage des Zynikers, warum sind wir nicht alle Hedonisten? Warum tun wir nicht alle genau das, wozu wir Lust haben? Die Antwort ist das Soziale, die Kontrolle durch andere Menschen, deren Missbilligung wir uns nicht aussetzen wollen, da sie doch so entscheidend sind für das eigene Selbstverständnis und den eigenen Wert. Die meisten Dinge in unserem Leben tun wir mit anderen Worten aus Feigheit und Furcht, würde der Zyniker sagen. Dies ist ein nietzscheanischer Standpunkt, der Mensch wird dabei von einem Ort außerhalb des Sozialen betrachtet.

Diesen Ort gab es einmal hier im Land, bevor das Christentum kam, es war der Ort der Vogelfreien. Der Vogelfreie hatte in der Gesellschaft weder Rechte noch einen Platz, das heißt, er musste sich dort aufhalten, wo sonst niemand war. Niemals wieder in ein Paar menschliche Augen schauen. Niemals wieder einem Menschen durchs Haar oder über die Wange streichen. Niemals wieder zusammen mit einem anderen Menschen lachen. Kam der Vogelfreie, wandte man sich von ihm ab. Sie durften ihn auch töten, wenn sie wollten, er war ein Niemand; es bedeutete nichts, ob er lebendig oder tot war, aber warum sollten sie ihn töten, solange sie sich von ihm abwenden konnten?

Die Hölle, das sind die anderen, schrieb Sartre, aber das ist nur richtig, wenn sie sich von dir abwenden. Die Hölle, das ist, wenn du niemand bist. Deshalb habe ich in meinem Leben so große Distanz zu anderen Menschen gehalten; aus Furcht, abgewiesen zu werden, habe ich die Zurückweisung selbst verursacht. Es ist die Urangst, ein Säugling, den niemand will. Von dem niemand etwas wissen will. In dem niemand einen Wert sieht. Dem niemand entgegenkommt. Diese Furcht hält vieles im Zaum, denn sie ist ja nicht unbekannt, im Gegenteil, wir begegnen ihr jeden Tag in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen. So ist es schon immer gewesen, seit wir klein waren, im engen Familienleben wie in den Institutionen, dem Kindergarten, der Schule, der Universität und später im Beruf. Immer wird mit Abstand und Nähe, Belohnung und Strafe gearbeitet: Du bist sechs Jahre alt und hast etwas Dummes getan, was passiert? Deine Mutter schaut dich nicht an. Sie will nichts von dir wissen, aber woher sollst du wissen, dass es nur für kurze Zeit ist? Du lernst es, du bist neun Jahre alt und tust etwas Dummes, was passiert? Du wirst in dein Zimmer gesperrt und hast dort den ganzen Abend allein zu bleiben. Du spielst dich in der Schule auf, was passiert? Du wirst ausgegrenzt.

Was heißt es, ausgegrenzt zu werden? Niemand sieht dich, niemand hört dich, alle laufen davon, wenn du kommst. Es kommt vor, dass Jugendliche, die so etwas über längere Zeit erleben, sich das Leben nehmen.

Du arbeitest an einem Ort, von dem es heißt, man nimmt Rücksicht, sagen wir, bei der schwedischen Einwanderungsbehörde. Du kommst aus einer anderen Stadt, wo du innerhalb desselben Systems gearbeitet hast, dort hattest du einen Blog, in dem du vor langer Zeit etwas Unbedachtes über deine Arbeit geschrieben hast. Jetzt nähern sich die Wahlen, ein Journalist liest deinen Blog, bringt deinen Beitrag auf die Titelseite der größten schwedischen Tageszeitung, und danach sieht dich an deinem Arbeitsplatz niemand mehr an.

Niemand hört mehr auf das, was du sagst, du hast das Gefühl, als gäbe es dich nicht. Du wohnst allein, hast weder eine Freundin noch Kinder, weshalb existierst du eigentlich, was ist der Sinn deines Lebens? Die Mechanismen sind sozial und gehören allen, die Konsequenzen aber sind psychologisch und gehören dem einen.

So fügen wir einander Schmerzen zu und schaden einander, denn zu leben ist schwieriger als irgendeine Kunst, und das Böse ist nichts, wofür man sich entscheidet, es ist etwas, das in jemandem entsteht. Um es im Zaum zu halten, musst du es kennen oder zumindest wissen, dass es das Böse gibt. Mein Vater schloss mich ein, es geschah nicht oft, aber wenn er es tat, war es schrecklich. Denn ich wurde in den Keller gesperrt, und ich hatte eine Todesangst vor dem Keller, allein hinunterzugehen, um irgendetwas zu holen, zum Beispiel ein Glas mit eingemachten Früchten, erschreckte mich, sogar mitten am Tag.

Das Gefährliche an meinem Vater war, dass ich nicht genau wusste, was falsch war und was nicht, die Wut konnte aus einer vollkommen unerwarteten Ecke kommen. Was dazu führte, dass ich ungefähr dasselbe Verhältnis zu ihm bekam, das er meiner Meinung nach zu seiner Mutter hatte. Ich fühlte mich mit ihm verbunden, und je größer die Zurückweisungen waren, umso mehr buhlte ich um seine Gunst und die vorbehaltlose Bestätigung, dass ich in seinen Augen gut genug war. Ich wollte von ihm beachtet werden, nicht nur, wenn ich etwas falsch gemacht hatte. Davon wusste er nichts, ebenso wenig wie seine Mutter von seinen starken Gefühlen für sie wusste. Ich habe einmal erlebt, wie sie ihm den Kopf wusch, ich vergesse es nie: Der große Mann stand mit den Händen an der Hosennaht da und blickte zu Boden, dreiundfünfzig Jahre alt, früher der stärkste Mann, den ich kannte, während sie, winzig und uralt, zu ihm aufschaute und ihn anschnauzte.

Ich vergesse es nie, weil ich sah, was es heißt, Macht über einen anderen Menschen zu haben. Sie hatte Macht über ihn, er hatte Macht über mich. Dass er als letzte Tat seines Lebens zu ihr nach Hause zog, nachdem er alles andere aufgegeben hatte, ist ebenso schön wie furchtbar. Er starb dort und saß zwei Tage tot auf dem Stuhl, bevor jemand einen Krankenwagen rief und er abgeholt wurde. Sie war die ganze Zeit über in der Wohnung. Sie hat ihn ja auch geliebt, er war ihr ältester Sohn, und nun saß er auf einem Stuhl, reglos und blutig, und sie, was tat sie, saß sie in der Küche und rauchte? Ging sie die Treppen auf und ab? Lag sie ohne Laken im Bett und schlief? Das ist der Anfang meiner Geschichte, ein Vater, der ein Sohn ist und im Haus einer Mutter stirbt, die ihn dort sitzen lässt, vielleicht zu gebrochen vor Trauer, um etwas zu unternehmen, vielleicht zu verstört, um zu verstehen, was geschehen ist, alles ausgewischt vom alles auslöschenden Licht der Trauer.

Der Schluss ist anders. Denn als er begraben wurde, verstand ich, was Gnade ist. Da wurde er nicht als dieser bestimmte Mensch mit diesen bestimmten Eigenschaften und Neigungen gesehen, als ein Mensch, der in dieser und jener bestimmten Form gehandelt hatte, sondern als ein Mensch unter unzähligen anderen, und sein Schicksal wurde als ein Schicksal unter unzähligen anderen Schicksalen gesehen. Es war Gnade.

Die Gnade ist mit anderen Worten der Gegensatz des Sozialen. Das Soziale teilt ein, schließt aus, unterdrückt, hebt hinauf. Das Soziale ist ein System aus Unterschieden, eine Welt, in der alles eingeteilt und differenziert wird. Die Gnade hebt alle Unterschiede auf, in ihr sind alle gleich. Ihre Radikalität ist so groß, und der Gedankengang dahinter unterscheidet sich so sehr von allem anderen, dass ihre Bedeutung eigentlich unmöglich zu erfassen ist. Aber genau darum, um nichts anderes, geht es im Christentum. Die Aussätzigen waren Unreine, alle wandten sich von ihnen ab, sie mussten in ihren eigenen kleinen Gruppen leben, in denen sie und ihre Gesichter sich auflösten. Sie lebten in einer Art Vogelfreiheit. Und ihre Identität wurde zweitrangig im Vergleich zu dem, was mit ihren Körpern geschah, denn das war das Einzige, was man sah. Für Jesus gab es zwischen ihnen und den anderen keinen Unterschied. Die Zöllner, die gehasst wurden, weil sie korrupt waren und von den Ärmsten stahlen, und die Huren, die Unwürdigsten der Unwürdigen, er sah keinen Unterschied zwischen ihnen und den anderen, sie waren Menschen wie alle anderen Menschen auch.

Er sagte: Wenn dich jemand schlägt, so halte ihm die andere Wange hin. Er ist ein Mensch wie du, er ist du. Schlag ihn nicht. Es ist ein ebenso unmenschlicher Gedanke wie jener Nietzsches, da er ebenso außerhalb des Sozialen gedacht wird. Ja, es ist ein göttlicher Gedanke. Breivik ist ebenso viel wert wie die jungen Menschen, die er brutal ermordet hat. In diesem Gedanken verschwindet unsere Identität, es sind die Unterschiede, die sie geschaffen haben, und dadurch wird das Christentum unrealisierbar, wir können uns nicht selbst wegdenken, wir haben zu viel zu verlieren, es ist das Einzige, was wir haben.

Der Idiot von Dostojewski gehört vielleicht zu den besten Romanen, die je geschrieben wurden, er handelt davon, dass sich das Gute nicht festhalten oder verstehen lässt und man sich im Grunde auch nicht dazu verhalten kann. Fürst Myschkins Präsenz, die durch und durch gut ist, schafft überall um ihn herum Konflikte und Chaos, denn das Unterschiedslose ist keine Kategorie, es ist ein Ort, an dem jegliche Bedeutung verschwindet; egal, was du hast und wie unveräußerlich es für dich ist – dort hat es keinen Wert. Und das ist unbegreiflich. Egal, welche Intention Dostojewski hatte, als er dieses Meisterwerk schrieb; was Fürst Myschkin mit sich bringt, will niemand von uns haben, denn er ist der Idiot, der mit offenem Mund und verständnislosen Augen auf alles starrt, was um ihn herum vor sich geht. Der Idiot ist der Gegenpol des Zynikers. Zwischen ihnen beiden gilt es zu wählen. Der Zyniker fragt: Aber wer soll vergeben? Der Idiot antwortet: Das werde ich tun. (Karl Ove Knausgård, Album, 22.10.2016)