In einer "komplexen und unübersichtlichen Welt" seien die Konsumenten auf der Suche nach traditionellem Handwerk, sagt Arbeitsmarktforscher Wolfgang Bliem.

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"Viele finden über den zweiten Bildungsweg ins Handwerk", sagt Bliem.

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STANDARD: Sie arbeiten hauptsächlich vor dem Bildschirm. Wünschen Sie sich manchmal, mehr mit Ihren Händen zu arbeiten?

Bliem: Das kommt durchaus vor, weil es etwas Entspannendes an sich hat. Das habe ich immer schon gerne gemacht, ich habe auch in meiner Freizeit ein Brettspiel entwickelt. Heimwerken ist ja aktuell sehr beliebt.

STANDARD: Abgesehen von der Freizeit, sehen Sie generell einen Trend, dass Leute vermehrt auch im Beruf manuelle Arbeit verrichten wollen?

Bliem: Es ist zwiespältige Beobachtung: Einerseits ist es in vielen handwerklichen Berufen schwierig, Nachwuchs zu finden und andererseits zeigt sich eine Gegenbewegung: Immer häufiger eröffnen junge Menschen kleine Gewerbebetriebe – eine Uhrmacher-Werkstatt, Schusterei oder kleine Kaffeeröstereien.

STANDARD: Wie erklären Sie sich das?

Bliem: Ich denke ein Punkt ist die Sinnsuche. Die Leute wollen sich umorientieren, einen Ausgleich zu ihrer bisherigen Arbeit finden, weil sie unzufrieden mit ihrem aktuellen Bürojob sind und bei der Suche nach Alternativen stoßen sie auf solche Berufe. Es kann natürlich auch sein, dass jemand in dem Bereich, in dem er eine Ausbildung hat, keinen Job findet und umsatteln muss oder es entwickelt sich aus einem Hobby heraus. Viele finden also über den zweiten Bildungsweg ins Handwerk.

STANDARD: Liegt das auch daran, dass hier ein Umdenken stattfindet, dass die Leute wissen wollen, woher ihre Produkte stammen und ihre Schuhe beim Schuster um die Ecke anstatt online kaufen – wodurch sich eine Nische ergibt, in der das Handwerk wieder interessant ist?

Bliem: Auf jeden Fall. Durch die Digitalisierung hat sich diese Gegenbewegung entwickelt. Einerseits von den Konsumenten, die wieder im persönlichen Kontakt eine Ware abholen oder anfertigen lassen und auch mehr Vertrauen in die Qualität der Leistungen und Produkte haben und andererseits wollen sich die Anbieter bewusst davon absetzen. Die Voraussetzung dafür ist jedoch, dass es genügend Konsumenten gibt, die sich das leisten wollen.

STANDARD: Das klingt etwas romantisierend: Das traditionelle Handwerk und die, die es sich leisten können und wollen, nehmen es in Anspruch...

Bliem: Bis zu einem gewissen Grad sehe ich das als Chance. Denn in unserer komplexen und unübersichtlichen Welt sind viele Leute auf der Suche nach solchen Dingen. So kann sich das Handwerk etablieren zu einem Wettbewerbs- und Unternehmensmodell werden – dafür braucht es diese Vorreiter. Dann hat das nicht mit Romantik zu tun, sondern dann ist das Handwerk wieder marktfähig.

STANDARD: Kann sich durch die Folgen der Digitalisierung also verloren gegangenes Handwerk wieder etablieren?

Bliem: Ich denke, dass es sich etablieren kann, es müssen aber gewisse Voraussetzungen da sein. Beispielsweise müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen stimmen, wie leicht oder schwer der Zugang zum Handwerk und einem eigenen Gewerbe ist. Es braucht ein gutes Ausbildungssystem für Quereinsteiger und eine Absicherung, damit sich die Leute auch trauen, ein Kleingewerbe zu gründen.

STANDARD: Welche Faktoren sprechen für eine Zukunft des Handwerks?

Bliem: Ein in zunehmenden Bevölkerungskreisen wachsendes Qualitätsbewusstsein, das über das Handwerk ganz gut gedeckt werden kann, ein gewisses Bedürfnis nach persönlichem Kontakt und auch der anhaltende Individualisierungstrend. Dass man seine Möbel nicht im Möbelhaus kauft, sondern sich eine zugeschnittene Wohngarnitur vom Tischler fertigen lässt. Dieser Trend kann das traditionelle Handwerksgewerbe fördern, sodass es sich einen Platz in der modernen und digitalisierten Arbeitswelt sichern kann und sogar Wachstumspotenzial hat.

STANDARD: Welche Berufe könnten künftig so einen Aufschwung bekommen?

Bliem: Vor allem Berufe, die mit persönlichen Dienstleistungen zu tun haben: Beispielsweise Schuster, Bekleidungsfertigung, Bäcker, Fahrradmechaniker, Schlosser oder Instrumentenbauer, sowie Uhrmacher – auch wenn bei letzterem die Zahlen andere Geschichten erzählen. Was ich aber nicht sehe ist, dass Berufe, die früher in der Lehrberufsliste waren, jetzt wiederbelebt werden. Der Hufschmied wurde jedoch wieder in die Lehrberufsliste aufgenommen, weil der Pferdesport an Bedeutung gewonnen hat. Allerdings werden in diesen Bereichen keine Beschäftigungsmöglichkeiten für die breite Masse entstehen, die Arbeitslosigkeitsprobleme lösen, sondern es geht vielmehr darum, dass sich Personen selbst verwirklichen.

STANDARD: Und wie bekommt man nun junge Personen dazu, eine Lehre im Handwerk zu machen?

Bliem: Das wüssten wir alle gerne. Es gibt ja einige, die sich dafür begeistern können, aber die meisten Jugendlichen tendieren zu einer Allgemeinbildung mit Studium. Hier mit reiner Information entgegenzuwirken ist schwierig. Die jungen Menschen müssen selbst feststellen, was sie wollen – und das passiert häufig erst dann, wenn sie realisieren, dass sie gar nicht studieren, sondern lieber etwas Handwerkliches machen wollen. Der Heimwerkertrend könnte Handwerk wieder sichtbar machen: Man geht spazieren, sieht kleine Gassenlokale und kommt dabei vielleicht auf die Idee, einen dieser Berufe auszuüben. (Selina Thaler, 21.11.2016)