Der Biograf Schmidt über Peter Weiss: "Er meinte, anfangs naiv gewesen zu sein. Wie alles bei ihm war auch seine politische Einstellung mit einem Prozess des Suchens und Verwerfens verbunden. Er kam durch das Ringen mit seinen Texten als Autor zum Sozialismus."

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Werner Schmidt, geb. 1944 in Etschberg/Pfalz, war von 2011 bis zu seiner Emeritierung Professor für Neuere Geschichte an der Södertörn Universität in Stockholm.

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Werner Schmidt, "Peter Weiss. Biografie". € 35,00 / 461 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2016.

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In der Nähe von Potsdam geboren, stand Peter Weiss in den 1960er- und 1970er-Jahren als Dramatiker und Erzähler im Vordergrund der politischen Diskussion. Mit dem dokumentarischen Stück Die Ermittlung, der Trilogie Die Ästhetik des Widerstands und seinem unerschütterlichen Bekenntnis zum Sozialismus löste er immer wieder Kontroversen und Debatten aus. In seiner Biografie Peter Weiss zeichnet der Historiker Werner Schmidt den intellektuellen Weg des unbequemen Autors nach.

STANDARD: Als vor knapp einem Jahrzehnt zum 25. Todestag von Peter Weiss der Autor Jens-Fietje Dwars seine Weiss-Biografie veröffentlichte, musste er feststellen, dass Weiss die Leser seiner Bücher und die Zuschauer seiner Stücke verloren hatte. Können Sie mit Ihrer Biografie einen anderen Befund geben?

Werner Schmidt: Ich muss Dwars zustimmen. Aber das war die Motivation für meine Biografie. Weiss' Stücke handeln vom Wunsch, die Welt zu verbessern, obwohl die Zeitläufte dem entgegenstehen. In seinem letzten Drama Der neue Prozess zeigt Weiss in einer Aktualisierung von Kafkas Roman, wie der Humanismus und die Ideale des Josef K. von den Herrschenden nur ausgenützt werden. Nach der Erschießung des Josef K. endet das Stück mit der Regieanweisung, Leni, ebenfalls eine Figur aus Kafkas Prozess, solle die geballten Hände emporwerfen und einen furchtbaren Schrei ausstoßen. Dieser Schrei kann als Aufschrei des Entsetzens darüber verstanden werden, wie wir leben in dieser alternativlos erscheinenden Welt und was wir geschehen lassen. Da möchte ich mit meiner Biografie eingreifen und zeigen, wie Weiss in unsere Zeit passt, da es keine Alternative zu geben scheint.

STANDARD: Für das Jetzt, also seine Zeit, habe er schreiben wollen, zitieren Sie Weiss.

Schmidt: Diese Erkenntnis, sein Schreiben sei sinnlos, wenn er damit jetzt nichts ändern könne, traf Weiss Ende des Jahres 1965. Es war im Vorfeld des Jahres 1968, und Weiss empfand die Geschichte als offen. Er wollte sich in das Jetzt einschreiben. Anfang der siebziger Jahre schlug die Stimmung dann um, und die Aussicht auf einen revolutionären Umbruch war vorbei. Damit wandte auch Weiss den Blick nach vorne, in eine ungewissere Zukunft.

STANDARD: Ihr Buch setzt 1960 ein, als Weiss mit seinem Mikroroman "Der Schatten des Körpers des Kutschers" seinen Durchbruch als deutschsprachiger Schriftsteller erlebte. Der Roman steht unter dem Einfluss der Psychoanalyse. Welche Bedeutung haben Weiss' Selbsterkundungen für sein Werk?

Schmidt: Weiss bezeichnete seine frühen Selbstfindungswege mit einem Brecht-Zitat als Seelenkäse. Zugleich gab er zu, dass er ohne psychoanalytische Aufarbeitung seiner Vergangenheit die Dramen Marat/Sade und Die Ermittlung nie hätte schreiben können. In Marat/Sade lässt er de Sade einmal sagen, es helfe nicht, die Gefängnisse zu stürmen, nur die äußere Welt zu verändern. Viel schlimmer seien die inneren Gefängnisse.

STANDARD: Markierte der literarische Durchbruch 1960 zugleich das Ende von Weiss' Krise?

Schmidt: Weiss war als Maler und als Filmemacher gescheitert. Seine Beziehung zu seiner Lebensgefährtin Gunilla Palmstierna war in die Brüche gegangen, und seine Eltern waren wenige Monate hintereinander gestorben. In dieser Lebenskrise wusste er nicht, wie es weitergeht, ob er einen Untergang oder Übergang erfahren wird. Er wollte alles aufgeben. Um nicht unterzugehen, war es für ihn wichtig, sich einen Standpunkt zu erarbeiten, von dem er ausgehen konnte. Nur so sah er einen Weg, als Künstler weiter zu existieren.

STANDARD: Weiss bekannte sich zum Sozialismus und explizit auch zur sozialistischen Seite in der gespaltenen Welt des Kalten Krieges. Würden Sie ihn als politisch naiv bezeichnen?

Schmidt: Weiss meinte, anfangs naiv gewesen zu sein. Wie alles bei ihm war auch seine politische Einstellung mit einem Prozess des Suchens und Verwerfens verbunden. Er kam durch das Ringen mit seinen Texten als Autor zum Sozialismus. Mit dem Drama Marat/Sade versuchte er, seinen eigenen dritten Standpunkt zu überwinden, sich für das politische Eingreifen Marats zu entscheiden, ohne jedoch die Bedenken de Sades zu vernachlässigen. Darauf folgte das Drama Die Ermittlung. Angeregt vom Frankfurter Auschwitz-Prozess, setzte sich Weiss darin mit dem Holocaust auseinander. Er fragte sich, wie eine Gesellschaft beschaffen sein müsse, die Auschwitz nicht mehr möglich mache. So näherte er sich dem Sozialismus als einem Prinzip, das zu einer anderen Gesellschaft führen könne.

STANDARD: Damit distanzierte er sich aber nicht von der DDR.

Schmidt: Als er 1965 seine Zehn Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt aufstellte, unterstrich das sein Bekenntnis zum Sozialismus. Allerdings betonte er, die sozialistischen Länder müssten mehr Offenheit zeigen. Für sich selbst schloss er aus, da zu leben.

STANDARD: Wie konnte er glauben, sein Drama "Trotzki im Exil" würde ausgerechnet im Leninjahr 1970 in der DDR aufgeführt werden?

Schmidt: Weiss schrieb das Stück für die innere sozialistische Diskussion. Aber als er es fertiggestellt hatte, war ihm klar, dass es im Osten Deutschlands nicht aufgeführt werden kann. Trotzki war da immer noch im Exil, und so musste auch das Stück über ihn im Exil bleiben. Dass es schließlich an einem bürgerlichen Theater zur Aufführung kam, entsprach nicht dem, was Weiss sich vorgestellt hatte. Die "Trotzki-Niederlage" war damit für ihn besiegelt. Das teilte er auch Hanns Anselm Perten und Manfred Haiduk, seinen Freunden vom Rostocker Volkstheater, mit. Die beiden zeigten sich bestürzt über das "Trotzki"-Stück. Sie versuchten, Weiss zu überreden, es zurückzunehmen, weil sie es als antisowjetisch ansahen. Weiss ließ sich darauf nicht ein. Für ihn kündigte sich bereits der Bruch mit der DDR an.

STANDARD: Liegt in der Wahrheitssuche, die Christa Wolf, wie Sie zitieren, Weiss bescheinigte, das Credo seines Lebens?

Schmidt: Wahrheit war für Weiss eine persönliche Angelegenheit. Er sah darin nicht etwas, das es draußen in der Welt gab und das man bloß intellektuell entdecken und ergreifen musste. Vielmehr konnte es nur etwas sein, worin er mit seinem Fühlen und Denken vollständig enthalten war. Es musste also immer seine Wahrheit sein. In dem Tagebuch Rekonvaleszenz, das er nach seinem Herzinfarkt 1970 schrieb, kam er zu der tiefen Überzeugung, dass er nie etwas sagen werde, hinter dem er nicht völlig stehen könne.

STANDARD: Als "eine facettenreiche Suche" nach einer Wahrheit und dem Ich in ihr beschreiben Sie Weiss' Opus Magnum "Die Ästhetik des Widerstands"...

Schmidt: Darin geht es um die Suche nach einem eingreifenden Denken. Der Ich-Erzähler fragt, wie er sich eine Haltung erarbeiten könne, die ihn in die Verhältnisse eingreifen lasse. Weiss beschreibt diesen Entwicklungsweg als eine Hades-Wanderung, auf der viel geopfert wird. Die Jugendfreunde Hans Coppi und Horst Heilmann, gestaltet nach zwei historischen Mitgliedern des Widerstandes, werden hingerichtet. Und der Ich-Erzähler muss manche seiner früheren Überzeugungen aufgeben wie zum Beispiel sein Bekenntnis zur Sowjetunion, das anfangs die unerlässliche Bedingung seines politischen Kampfes gegen den Faschismus war.

STANDARD: Kann Weiss' Geburtstag Anlass sein, dieses nahezu vergessene Werk, das soeben in einer von dem Philologen Jürgen Schutte überarbeiteten Version erschien, neu zu entdecken?

Schmidt: Ich bin sicher, dass es wiederentdeckt wird. Es ist ein Werk, das für unsere Zeit geschrieben ist. Verbunden mit dem Eingreifen in das politische Geschehen ist die Eroberung der Kultur. Der Ich-Erzähler steht mit seinen Freunden vor dem Pergamonaltar in Berlin. Den Blick richten sie nicht nach oben auf die Götter und Herrscher, sondern auf die Niedrigen und Geschlagenen unten. Sie versuchen herauszubekommen, wie dieses Kunstwerk durch eine andere Betrachtung für ihren Kampf eine Bedeutung erlangen könne. Auch in der Literatur sieht Weiss immer wieder eine Bestätigung des ewigen Kampfes zwischen oben und unten. Und wenn es auch nicht so werden würde, die Hoffnungen würden bleiben. Die Utopie würde notwendig sein.

STANDARD: Werden Weiss' Stücke auf die Bühne zurückkehren?

Schmidt: Ich hoffe es. In Stockholm führt Peter Weiss' Tochter Nadja Die Ermittlung wieder auf. Es kann sein, dass der Geburtstag eine Neueroberung bringt.

STANDARD: Wie Ihrer Biografie zu entnehmen ist, arbeitete Weiss über Jahre hinweg an einem Welttheater-Projekt. Was ist daraus geworden?

Schmidt: Anfang der sechziger Jahre fing Weiss an, Material zu sammeln. Er ging dabei vor wie für eine wissenschaftliche Arbeit. Es gibt ein Foto, das ihn in seinem Schreibatelier zeigt. Man sieht eine Wand herausgezogener Schubladen, in denen er die Exzerpte und alles, was er geschrieben hatte, sammelte. Aber die Aufteilung all dieses Materials auf die Komplexe Inferno, Purgatorio und Paradiso bereitete ihm zusehends Schwierigkeiten. Hinzu kam Weiss' damaliger Wunsch, für das Jetzt zu schreiben, der ihn immer wieder aus der Arbeit daran herausriss. Auch die Ästhetik des Widerstands ist ein Teil dieses Projekts und von dessen Denken geprägt. Das Projekt selbst aber wurde nie verwirklicht. (Ruth Renée Reif, Album, 13.11.2016)