Wien – Diese Geschichte könnte auch auf einem Schulhof in den Neunzigerjahren beginnen. Dort läuft der kleine Michi auf Patrick zu. Wie sein Lieblings-Wrestling-Held aus dem Fernsehen streckt er die Hand aus und schreit: "Undertaker: Clothesline!" und deutet an, seinen Konkurrenten umzumähen. Beide lachen.

Diese Geschichte handelt vom Kampf Gut gegen Böse, trainierten und weniger trainierten Körpern, die durch die Luft fliegen, Latexanzügen, lauter Musik, Gewalt und großen und kleinen Emotionen. Professionelles Wrestling.

Viel gelacht wird in der Wiener Stadthalle an diesem Abend. Es herrscht aber auch Aufregung. Die WWE, also World Wrestling Entertainment, ist zu Gast. Alle Augen sind auf den Ring in der Mitte gerichtet, hier wird gerade eine Clothesline, also eine Bewegung, bei der der Gegner mit der ausgestreckten Hand zu Boden gebracht werden soll, angedeutet. Ein riesiger Mann mit Glatze und Vollbart in einem schwarzen, engen Ringeroutfit donnert auf die Bretter. Es knallt. Das Publikum in der gut gefüllten Halle ist unzufrieden. "The Big Show" heißt der Koloss, der sich gerade aufrappelt und Sympathieträger ist. Das merkt man. Manche rufen: "Buh", "The Big Show" schüttelt den Kopf, um den fiktiven Schmerz und die fiktive Benommenheit wegzubeuteln. Alles wieder gut.

In der Stadthalle wuselt es im Ring. Vor jedem Match gibt es eine Auftrittszeremonie der Kämpfer, Musik dröhnt durch die Halle, ein kurzes Vorstellungsvideo ist auf der großen Videowand zu sehen. Showtime.
derStandard.at

"Wrestling ist die Oper der Arbeiterklasse", sagt Markus Lust. Der Journalist hat sich in seiner Diplomarbeit wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt. Fan ist er natürlich auch. Dass die Matches einem manchmal mehr und manchmal weniger strikten Skript folgen, sei zwar allen bewusst. "Im Kino oder im Theater stört das aber auch niemanden."

Im professionellen Wrestling gibt es Regeln, einen Rahmen der Dramaturgie. Am Ende des Kampfes gibt es einen oder mehrere Gewinner und auch Verlierer. Wie so oft im Leben. Wenn der Gegner über drei Sekunden mit beiden Schultern am Boden gehalten wird, hat er verloren. Der Schiedsrichter zählt aus. Wenn ein Gegner zur Aufgabe gezwungen wird, hat er verloren. Wenn ein Gegner zu lange außerhalb des Ringes bleibt, wird er disqualifiziert.

Alles nur Show

Wrestling ist eine Show, das ist jedem klar. Die Gewalt bleibt eine Referenz, als Mittel zum Zweck im Kampf zwischen guten und bösen Charakteren. Sie ist in ihrer Darstellung so überzeichnet, dass sie manchmal in den Klamauk abzudriften droht. Dem Publikum ist das wurscht, am Ende jedes Matches gewinnt die Unterhaltung.

In der Stadthalle wuselt es im Ring. Vor jedem Match gibt es eine Auftrittszeremonie der Kämpfer, Musik dröhnt durch die Halle, ein kurzes Vorstellungsvideo ist auf der großen Videowand zu sehen. Showtime. Acht Kämpfer in zwei Viererteams versuchen den Sieg davonzutragen. Der Wrestler "Goldust" sticht mit seinem gold-schwarzen Latex-Ganzkörperanzug heraus. Er steht auf den Seilen in der Ecke über seinem Gegner und lässt Schläge herunterprasseln. Oder tut zumindest so. Im Publikum wird mitgezählt: sechs, sieben, acht, neun, zehn. Die Halle steht, selbst Sanitäter machen Videos mit ihren Handys.

Stefan Kastmüller ist Vizepräsident der WWE Europe, er weiß um die Faszination: "Das Live-Event ist ein besonderes Erlebnis. Das Publikum steht im Mittelpunkt der Show und der Marke WWE."

Und die Marke zieht: Ausgehend vom Mutterland USA startete Wrestling spätestens in den Neunzigerjahren einen weltweiten Triumphzug. Wrestler wurden Rockstars, tauchten in Hollywood-Actionfilmen auf und etablierten sich im Showbusiness. Für Mickey Rourke wurde die Rolle des Wrestlers zum vielbejubelten Comeback. Im Heute ist die WWE längst angekommen: 13 Millionen Youtube-Abonnenten oder 34 Millionen Facebook-Follower sprechen für sich. Der Fokus liegt neben den Live-Shows besonders auf den Fernsehformaten Raw und Smackdown. "Man kann es mit der Dramaturgie einer TV-Serie vergleichen. Es werden wöchentlich die Geschichten erzählt, die dann regelmäßig bei einem großen Special Event ihre Höhepunkte finden", sagt Kastmüller.

Belohnung für Helden

Die Interaktion mit dem Publikum in der Stadthalle ist bemerkenswert. Die Kämpfer reagieren auf Zurufe, besonders spektakuläre Aktionen werden sofort belohnt. Viele lächeln, manche ärgern sich. Die Gesten im Ring sind eindeutig, Missverständnisse braucht niemand. Die Helden sollen gefälligst Helden bleiben. Einer dieser Helden ist Cesaro. Der 35-jährige Schweizer heißt eigentlich Claudio Castagnoli und ist ein Star. "In Amerika bin ich oft der Bösewicht, aber in Europa ist das ein Heimspiel. Hier bin ich einer von den Guten", sagt er. Wrestler wollte er eigentlich schon immer werden, "der Beruf ist ein Traum für mich". Bei der Beschreibung lächelt er: "Wir sind wie Comic-Helden."

Aber auch Comic-Helden müssen hart arbeiten: Das Programm ist ein dichtes, pro Jahr gibt es um die 350 Shows. Dazwischen Training und Medientermine. Wrestler sind Darsteller und auch Leistungssportler. Die Bewegungen sind anspruchsvoll zwischen Akrobatik und Schauspiel. Fehler dürfen auch hier nicht passieren. Verletzungen sind beileibe keine Seltenheit.

Wrestler Cesaro (li.) macht sich Sorgen um seinen Partner Sheamus, der auf dem Boden liegt. Gut, dass alles nur eine große Show ist. Verletzungen kommen bei den Events aber trotzdem vor.
Foto: WWE

Nach der Show sind die Fans glücklich. "Es war unbeschreiblich", sagt ein Bub im Fan-Shirt, der zum ersten Mal live dabei war. "Ich bin schon seit Jahren Wrestling-Anhängerin", erklärt eine ältere Frau. Sie kennt auch die österreichische Tradition: "Ich war seinerzeit schon beim Catchen am Heumarkt. Dort ging es aber ruppiger zu."

Im Wiener Eislaufverein wurde früher auch gecatcht. Bis in die Siebzigerjahre galt Wien als europäische Kampfsportmetropole. Die Atmosphäre war eher feindselig. In der Stadthalle glitzert und funkelt es. Die Wrestler von heute sind nicht brachial oder gewalttätig, sondern eigentlich ganz lieb. Sie wollen eine gute Show hinlegen, die Fans sollen im Mittelpunkt stehen. Nach dem Spektakel stehen diese Schlange, sie wollen ein Selfie mit ihren Helden. Cesaro hat seinen Kampf verloren. Ein Foto macht er trotzdem. (Andreas Hagenauer, 15.11.2016)