"Unsere Arbeitswelt verändert sich radikal, eine Menge Jobs werden verschwinden. Andere werden wichtiger wie zum Beispiel die Pflegearbeit, eine bisher versteckte Arbeit, die vorwiegend Frauen leisten", sagt die finnische Unternehmerin Annu Nieminen.

Foto: Annu Nieminen

STANDARD: Sie beraten in Finnland mittelständische Unternehmen zum Thema Wachstum. Was bedeutet Wachstum in Zeiten der Globalisierung und des digitalen Wandels?

Annu Nieminen: Unsere Ressourcen sind limitiert, und wir müssen verantwortungsvoll mit ihnen umgehen. Gleichzeitig können wir nicht auf der Stelle treten. Wir müssen darüber nachdenken, was verantwortungsvolles UnternehmerInnentum im 21. Jahrhundert bedeutet.

STANDARD: Was genau macht das "Wachstumskollektiv Finnland"?

Nieminen: Wir haben vor drei Jahren begonnen und beraten inzwischen rund 200 mittelständische Unternehmen. Kasvuryhma ist eine Non-Profit-Initiative von rund 30 Einzelpersonen. Wir vernetzen die Unternehmen und organisieren vertrauliche Peer-to-Peer-Coachings. Die ewig gleichen Fehler sollen vermieden werden.

STANDARD: Woran scheitert UnternehmerInnentum in der Regel?

Nieminen: Es sind vier Punkte: der Mangel an Hunger auf Weiterentwicklung. Anders gesagt die Einstellung: Die Welt verändert sich, aber das betrifft mich nicht. Zu wenig Bemühung um den besten Nachwuchs. Geld allein zieht heute die größten Talente nicht an. Zu wenig Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen. Kein klarer Existenzgrund.

STANDARD: In welchen Bereichen sehen Sie Chancen?

Nieminen: Internet of Things, aber auch "clean tech", also zum Beispiel alles, was mit Energieeffizienz zu tun hat.

STANDARD: Sie selbst haben bei einer großen Beratungsfirma, McKinsey, angefangen. Warum der Wechsel zu einem Non-Profit-Unternehmen?

Nieminen: 2004, als ich angefangen habe zu studieren, wollten noch alle zu den großen Investmentfirmen nach London. Das hat sich geändert: Die besten Köpfe machen jetzt ihr eigenes Ding.

STANDARD: Finnland ist das erste Land, in dem die Schulfächer abgeschafft werden. Ist das eine gute Sache?

Nieminen: Sicher. Ich hatte das Glück, bereits Ende der 1990er-Jahren in einem Pilotprojekt so unterrichtet zu werden.

STANDARD: Das bedingungslose Grundeinkommen ist noch so ein Pilotprojekt, das Finnland als erstes europäisches Land 2017 beginnt. Was sagen Sie dazu?

Nieminen: Wir haben derzeit ein System, das Menschen aktiv ermuntert, passiv zu bleiben. Das heißt, schon bei einem sehr kleinen Zuverdienst kann man die gesamte Sozialleistung verlieren. Das soll sich ändern. Unsere Arbeitswelt verändert sich radikal, eine Menge Jobs werden verschwinden. Andere werden wichtiger wie zum Beispiel die Pflegearbeit, eine bisher versteckte Arbeit, die vorwiegend Frauen leisten.

STANDARD: Stichwort Frauen: In Sachen Gleichberechtigung ist Finnland ein Vorbild. Hatten Sie in Ihrer Ausbildung oder in Ihrer Funktion als CEO je ein Problem mit Geschlechterdiskriminierung?

Nieminen: (lacht) Ich bin als Tochter einer Alleinerzieherin mit einer Schwester aufgewachsen, also in einem Dreifrauenhaushalt. Meine Mutter ist auch Ingenieurin. Während meiner Ausbildung habe ich nie darüber nachgedacht – die Realität hat mich erst später eingeholt. Heute betrachte ich es als Stärke, eine Frau zu sein. (Tanja Paar, 22.11.2016)