Forscher haben herausgefunden: Bei Menschen, die an Binge-Eating leiden, ist das Hirnareal, das für zielgerichtete Entscheidungen zuständig ist, weniger aktiv.

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Leipzig – "Binge" heißt so viel wie Gelage – ein Anlass, um übermäßig viel zu essen. Seit dem Jahr 2013 ist Binge-Eating auch im internationalen Katalog der Krankheiten enthalten. Der ICD-10 versteht darunter eine "nicht näher bezeichnete Essstörung" oder "Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen". Bis zu drei Prozent der Erwachsenen leiden unter dem Zwang, unkontrolliert Essen in sich hineinzustopfen.

Der große Unterschied zur Bulimie: Die Betroffenen versuchen den Esssanfall nicht "ungeschehen" zu machen, indem sie sich erbrechen, Abführmittel zu sich nehmen oder extreme Diäten halten. Was den beiden psychischen Erkrankungen gemeinsam haben: Die Patienten werden von dem Gefühl heimgesucht, nicht mit dem Essen aufhören zu können.

Forscher des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig wollten nun herausfinden, wie Binge-Eating-Patienten Entscheidungen treffen, die nichts mit Essen zu tun haben. Sie erhofften sich, damit mögliche kognitive Mechanismen hinter der Erkrankung aufzudecken.

Kein nachhaltiger Lerneffekt

Dazu nutzten die Wissenschafter ein simples Kartenspiel: Den Probanden wurden jeweils zwei Karten vorgelegt, von denen eine deutlich häufiger gewinnt als die andere. Die Teilnehmer hatten nun die Aufgabe herauszufinden, welche Karte die bessere Wahl ist. Dabei veränderte sich im Lauf des Spiels nach einem einfachen Schema, welche der beiden Karten gerade die Gewinnerkarte ist. Die Probanden mussten daher im passenden Moment ihre bis dahin getroffene "Standardentscheidung" revidieren und sich für die andere Karte entscheiden.

Das Ergebnis der Untersuchung: "Den meisten Menschen gelingt diese flexible Verhaltensanpassung gut, Binge-Eating-Patienten haben hier jedoch Schwierigkeiten. Das heißt, sie testen immer wieder die offensichtlich schlechtere Option aus, obwohl sie es bereits anders gelernt haben", sagt Andrea Reiter, Erstautorin der Studie.

Anpassungsschwierigkeiten

Die Forscher schließen daraus, dass die Betroffenen generell Schwierigkeiten haben, erfolgreiche Entscheidungen zu treffen und gelernte Erfahrungen angemessen zu nutzen. Das ließ sich auch über bildgebende Verfahren beobachten. "Bei gesunden Menschen zeichnet sich die komplexe gelernte Struktur hinter der Logik 'Die eine Karte ist schlecht, wenn die andere gut ist' auch in der Hirnaktivität ab", sagt Studienleiter Lorenz Deserno. "Bei Binge-Eating-Patienten ist das nicht der Fall. Bei ihnen ist der mediale präfrontale Cortex weniger aktiv, also das wesentliche Hirnareal, um zielgerichtete Entscheidungen zu treffen."

Auch das Warn- oder Fehlersystem scheint bei den Betroffenen nicht ausreichend zu funktionieren. Im Gegensatz zu gesunden Menschen sind bei ihnen nach einer unpassenden Entscheidung weder der laterale präfrontale Cortex noch die Insula entsprechend aktiviert – zwei Hirnregionen, die gesunden Menschen dabei helfen, zur besseren Option zurückzukehren.

"Natürlich wäre es für uns Menschen das Einfachste, wenn unsere Umgebung immer konstant bleiben würde. Dann könnten wir stets die gleichen gelernten Verhaltensweisen anwenden und müssten uns nicht ständig anpassen", sagt Deserno. "Da sich unsere Umwelt aber jederzeit verändert, müssen wir zielgerichtet unsere Handlungsoptionen neu überdenken und uns dabei auch auf positive Erfahrungen berufen können. Binge-Eating- Patienten fällt das deutlich schwerer." (red, 24.11.2016)