Bild nicht mehr verfügbar.

"Salafismus breitet sich unter europäischen Muslimen aus": Gilles Kepel.

Foto: Picturedesk / Tim Birven

Gilles Kepel (mit Antoine Jardin), "Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa". Aus dem Frz. v. Werner Damson; € 24,– / 350 Seiten, Antje Kunstmann, München 2016

cover: Antje Kunstmann

Wann immer die Rede auf islamistischen Terror in Frankreich kommt, ist Gilles Kepel ein gefragter Mann. Der 1955 geborene Sozialwissenschafter – er unterrichtet an der renommierten Science Po in Paris – gilt als einer der besten Spezialisten für den politischen Islam und dessen Artikulationsformen. Kepel spricht Arabisch und hat lange Feldforschung in französischen Banlieues und Gefängnissen, in denen der Islamismus floriert, betrieben; seit sehr ernst zu nehmenden Morddrohungen von islamistischer Seite ist er ständig in Gegenwart eines Leibwächters unterwegs. Anders als sein Kollege Olivier Roy, dem er in lustvoller Gegnerschaft verbunden ist, lehnt Kepel die These ab, bei den Terroristen von "Charlie Hebdo", Bataclan etc. handle sich um jugendliche Nihilisten, die der RAF vergleichbar seien. Vielmehr hätten in all diesen Fällen mehr oder minder professionell agierende Jihadisten, die dem Westen den Kampf angesagt haben, die Hände mit im Spiel.

STANDARD: Herr Kepel, reihen sich die jüngeren Terroranschläge in Ihrem Land – "Charlie Hebdo", Bataclan, Nizza etc. – nahtlos in eine mittlerweile jahrzehntelange Tradition islamistisch inspirierter Terroranschläge ein, oder gibt es da neuartige Spezifika?

Kepel: Ich spreche von einer dritten Generation des Jihadismus. Die erste begann in den 1980ern in Afghanistan mit dem erfolgreichen Widerstand gegen die UdSSR und endete 1997 mit dem Scheitern in Algerien. Dann kam, hegelianisch gesprochen, die Negation dieses Prozesses, indem man plötzlich den Feind in der Ferne suchte, die USA. Das war die Blütezeit von Al-Kaida, welche sich mit 9/11 als eine leninistische, straff top-down handelnde Organisation entwarf. Die dritte Phase – abermals hegelianisch: eine Aufhebung der beiden vorhergehenden – begann 2005, als ein in Frankreich zum Ingenieur ausgebildeter Syrer namens Musab al-Suri einen "Appell zum weltweiten islamischen Widerstand" ins Internet stellte.

STANDARD: Was ist denn das Charakteristikum dieser dritten Phase?

Kepel: Für al-Suri spielt sich der jihadistische Kampf weder wie für die erste Generation in der Nähe ab noch ausschließlich wie für die zweite in der Ferne. Er trägt dem Umstand Rechnung, dass es Millionen Muslime in Europa gibt, viele von ihnen marginalisiert, welche er als Reservearmee für den Jihadismus betrachtet. Dies umso mehr, als sich ein Salafismus unter den europäischen Muslimen ausbreitet, der sich ei nen Bruch mit Werten wie Freiheit, Demokratie etc. auf die Fahnen geheftet hat. Die Geheimdienste haben nicht verstanden, dass aus dem Jihadismus eine Basisbewegung wurde und weiter in der Kategorie einer pyramidenförmigen Organisation gedacht. Deshalb haben sie zehn Jahre verloren, die von der Gegenseite zum Aufbau eines europäischen Jihadismus genutzt wurden.

STANDARD: Das Internet hat in diesem Prozess offenbar eine enorm wichtige Rolle gespielt.

Kepel: Der Text von al-Suri ging im Jänner 2005 online, im Februar 2005, am Valentinstag, wurde Youtube in Kalifornien gegründet. Danach kamen die Dinge erst recht ins Rollen, mit Twitter, Facebook, und, sehr wichtig für 2016, mit der Chat-App Telegram.

STANDARD: Haben sich die Attentäter von 2015 und 2016 direkt mit den Schriften von al-Suri auseinandergesetzt?

Kepel: Diese Leute sind keine Intellektuellen, keine Philologen, die einem Text auf den Grund gehen, aber sie haben zumindest Exzerpte in Tweetform gelesen, in einem Milieu, das sich von solchen Botschaften nährt. Nur Schwadroneure wie Olivier Roy, der kein Arabisch versteht, können behaupten, dass es sich bei ihnen um "einsame Wölfe" handelt.

STANDARD: Welche Auswirkungen hatten die spektakulärsten Anschläge 2015 – "Charlie Hebdo" und Bataclan – auf die Öffentlichkeit?

Kepel: Aus jihadistischer Sicht entgegengesetzte. Die Anschläge auf "Charlie Hebdo" und den koscheren Supermarkt Hypercacher waren ein politischer Erfolg, weil sie die französische Gesellschaft ins Mark trafen und in eine Ich-bin-Charlie- und eine Ich-bin-nicht-Charlie-Fraktion spalteten. Die Brüder Kouachi und Amedy Coulibali bekamen Millionen Likes auf Facebook.

Der Bataclan-Anschlag war zwar an der Anzahl der Toten gemessen effektiver – 130 Tote, das größte Massaker in Frankreich seit dem Nazimassaker 1942 im Ort Oradour-sur-Glane –, er hatte aber nicht denselben Effekt im Sinne einer Mobilisierung muslimischer Jugendlicher. Im Gegenteil: Viele junge muslimische Gefängnisinsassen, mit denen ich gesprochen habe, sagten mir, die Typen seien "barjot", völlig durchgeknallt.

Die ersten Attentate des 13. Dezember fanden beim Stade de France statt, und wenn es den Attentätern gelungen wäre, ihre Sprengstoffgürtel im Stadion selbst detonieren zu lassen, hätte es tausende Tote gegeben und sehr viele muslimische Tote. Der Effekt dieser Attentatserie war ganz und gar nicht im Sinne der Erfinder.

STANDARD: Haben die Anschläge des Jahres 2016 – das Massaker in Nizza, die Ermordung des katholischen Priesters in der Normandie – eine spezielle Note?

Kepel: Der Fall von Mohamed Bouhlel (Attentäter von Nizza, Anm.) ist speziell, weil er psychotisch war, in einem familiären Gewaltsystem befangen, Bordellbesucher, Schweinefleischesser und dem Alkohol nicht abgeneigt. In einer psychischen Krise wurde er allerdings blitzartig islamistisch formatiert, war also keineswegs jener einsame Wolf, als den ihn Olivier Roy gern sehen würde.

Auch die Mörder von Père Hamel hatten eine Infrastruktur, trotz der kläglichen Mittel, mit denen sie ihr Opfer umbrachten. Die Keramikmesser, die sie verwendeten, waren so klein, dass es ihnen nicht gelang, ihr Opfer zu enthaupten. Aber einer der beiden Täter wurde sehr schnell gratis mithilfe einer Fahrgemeinschaft über eine Distanz von 500 Kilometer hinweg aus Ostfrankreich in die Normandie transportiert.

STANDARD: Glauben Sie, dass eine generalisierte Feindseligkeit gegenüber Muslimen zu einer enormen Zunahme islamophober Übergriffen führen könnte?

Kepel: Natürlich gibt es solche Übergriffe, ich nenne das dann antimuslimischen Rassismus. Den Begriff "Islamophobie" verwende ich nur unter Anführungszeichen, weil es sich um einen im Umfeld europäischer Muslimbrüder entstandenen Kampfbegriff handelt, der eine falsche Symmetrie mit dem Antisemitismus herstellt. Der Antisemit ist gegen jeden Juden, weil dieser Jude ist.

Mit dem Begriff "Islamophobie" wird bezweckt, jede Kritik an den heiligen Schriften des Islam zu unterbinden und eine religiös definierte Opfergemeinschaft zu konstruieren. Das "Collectif contre l’islamphobie en France" (CCIF) strebt eine Beweislastumkehr an: Anstatt sich auf eine Reflexion über die Ursachen des Jihadismus einzulassen, wird Frankreich, das das eigentliche Opfer dieser Anschläge ist, in einen Gulag für Muslime uminterpretiert und der Laizismus in den zugehörigen Stalinismus, wenn Sie so wollen.

Die Zivilgesellschaft hat sich angesichts der Anschläge als bemerkenswert resilient erwiesen: Etwas, was auch nur entfernt einem Pogrom ähneln würde, hat es nicht gegeben. In meinem neuen Buch ("La Fracture", noch nicht auf Deutsch erschienen, Anm.) vertrete ich aber die These, dass die politische Klasse immer mittel mäßiger wird und als Reaktion auf eine ethnorassische Identitätspolitik setzt. Im Zusammenspiel könnte das in einen radikalen Bruch in der französischen Gesellschaft münden. (Christoph Winder, Album, 27.11.2016)