Marlis Prinzing: "Der Diskurs wirkt wie mit angezogener Handbremse geführt; offenbar wird unterschätzt, mit welchen komplex ins Private eingreifenden Infrastrukturen wir uns zunehmend umgeben."

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Wir bauen hohe Zäune um unsere Gärten, ziehen die Vorhänge zu, damit die Nachbarn uns nicht durchs Fenster schauen. Doch dass wir digital mehr und mehr in einer verglasten Wohnung mit durchsichtigen Möbeln leben, wollen wir nicht wissen oder wir resignieren. Wir haben aber Anspruch auf Privacy, auf Jalousien im Digitalen.

Es ist fünf Minuten vor zwölf, wenn wir uns nicht völlig des Privaten berauben lassen wollen, gläsern geworden durch Onlinekäufe, digital überwacht, berauscht durch Smart-Home, Smartphone und weitere im Wortsinn smarte Techniken: geschickt auf den eigenen Vorteil bedacht – wobei zu fragen ist, wer mit "eigen" gemeint ist. Auch hier gehen die Einschätzungen auseinander, auch dies ein Signal, endlich hellwach und aktiv zu werden: Vernetztes Denken, vernetzte Fertigkeiten, vernetzte, somit gestufte ethische Verantwortung sind die Schlüssel für eine gelingende Transformation in eine digitale Gesellschaft. Ihr Rückgrat ist ein Publikums- und Privacy-Kompass; er hilft, innovative Technik zielbewusst zu nutzen.

Privacy-Paradoxon

Immer wieder hört man aber, in der vernetzten Welt sei Privatsphäre überholt und Datenschutz unmöglich, zumal es keine Garantie gebe, was künftig mit Daten geschehe. Eine Milieustudie für Deutschland belegt, wie sich diese Auffassung ausbreitet: Zwei von drei Befragten finden, man müsse sich halt an den freien Umgang mit persönlichen Daten im Internet gewöhnen; die meisten sehen zwar Staat und Unternehmen auch in der Verantwortung, aber mehr als 80 Prozent die Einzelperson; und jeder zweite Befragte findet, er handle zurückhaltend im Netz. Michael Latzer (2015) ergänzt aus einer Umfrage in der Schweiz den Befund, dass die Nutzer verglichen mit 2011 mehr Selbstschutz betreiben, häufiger Datenschutzbestimmungen lesen und öfter verlangen, dass ihre persönlichen Daten gelöscht werden. Doch das "Privacy-Paradoxon", wonach Menschen ihrer Einsicht zum Trotz de facto häufig sorglos im Internet agieren, löst dies nicht auf.

Im Gegenteil: Der Diskurs wirkt wie mit angezogener Handbremse geführt; offenbar wird unterschätzt, mit welchen komplex ins Private eingreifenden Infrastrukturen wir uns zunehmend umgeben: wenn etwa Smart-Fernseher Gespräche im Raum auch an Drittanbieter weiterleiten können oder ein Raumtemperaturmesser auch aufzeichnet, ob die Personen im Raum sich schweißtreibenden Tätigkeiten widmen; oder wenn Facebook-Likes zu Rückschlüssen auf Intelligenz oder Parteiorientierung oder sexuelle Orientierung etc. herangezogen werden; oder dass selbst vorsichtiges Nutzerverhalten Schlüsse auf private Vorlieben ermöglicht.

Der Wert der Privatsphäre

Jeder von uns muss sich solcher Zusammenhänge bewusst sein und dann entscheiden, ob und was davon er will. Viele neue Produkte sind ja nicht generell schädlich. Sie können aber auf staatlicher, unternehmerischer und individueller Ebene so eingesetzt werden, dass sich die Grenzen zwischen dem, was jemand privat halten will, und dem, was er öffentlich preisgeben möchte, verwischen.

Den Gesetzgeber rufen oder ein Schulfach Medienkompetenz fordern – das kann nützen, wird aber nicht genügen. Uns muss zuerst der Wert der Privatsphäre wieder klar werden: Betrachten wir sie als unveräußerliches Menschenrecht, dann leitet sich daraus der Anspruch ab auf Autonomie, Würde, Solidarität und Gerechtigkeit und damit auf Privacy-Schutz durch individuelle Kontrolle und verantwortliche Datenverarbeitung sowie auf Privacy-Kompetenz durch einen ethischen Kompass, der uns entscheiden hilft. Ethik liefert Verhaltensempfehlungen, sie begründet Handlungsoptionen und Einschränkungen – und hat verschiedene Akteure im Blick.

Ein Beispiel: Den Hinweis, dass ein Smart-Fernseher Gespräche im Raum verwertet, in einer dicken Gebrauchsanweisung zu vergraben, lässt sich auch als bewusste Desinformation aus Profitgründen interpretieren. Ein Beleg für Herstellerethik hingegen wäre es, diesen Hinweis gut sichtbar auf Seite 1 der Anleitung zu platzieren – und ein verbraucherethisches Zeichen, an dem Konsumenten ihre Kaufentscheidung ausrichten könnten. Oder: Der Satz "Ich habe nichts zu verbergen" mag beim Thema "innere Sicherheit" Sinn machen, ist aber zugleich unsolidarisch. Denn eine solche Leitlinie würde jeden, der dennoch von seinem Recht auf Geheimnisse und persönliche Dinge Gebrauch macht, verdächtig machen. Und wer eine Krankheit für sich behalten will, um deswegen nicht diskriminiert zu werden, stünde öffentlich am Pranger. Privatsphäre schützt auch vor den Blicken aller auf die Benachteiligungen mancher.

Digitale Selbstverteidigung

Es gibt Empfehlungen und Initiativen zu Internet Governance und Privacy, die die Kompetenz von Verbrauchern schärfen und "digitale Selbstverteidigung" lehren – also zeigen, wie man auch im Digitalen Jalousien runterlässt. Hier sind Journalisten gefordert, sie müssten dazu beitragen, dass darüber systematischer informiert wird, sowie die Diskussion über Privacy anstoßen. Und Journalisten können direkt die Privacy-Kompetenz des Publikums fördern, indem sie deutlich machen, wann und inwiefern ein Userkommentar die Privatsphäre anderer User verletzt. Und warum man nicht nur jemand helfen muss, dem vor aller Augen in der Straßenbahn Gewalt angetan wird, sondern auch dem, der im Netz verbal verletzt wird. (Marlis Prinzing, 28.11.2016)