Fällt im lauten Literaturgetriebe mit ihrer ebenso eigensinnigen wie eigenständigen Sprache als eine wichtige literarische Stimme ihrer Generation auf: Anna Weidenholzer.


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Anna Weidenholzer, "Weshalb die Herren Seesterne tragen". € 20,60 / 192 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2016

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Karl Hellmann, ein pensionierter Lehrer, verlässt beinahe fluchtartig, an einem 20. Oktober, elf Uhr zehn, seine Wohnung, ohne seiner Frau Margit eine Nachricht zu hinterlassen. Er will sein Forschungsprojekt, das er gemeinsam mit ihr entwickelt hat, in einem durch das Zufallsprinzip ausgewählten Ort beginnen.

Nach dem Vorbild von Bhutan, das einen Fragebogen zur Erhebung des Bruttonationalglücks entwickelt hat, nimmt er sich vor, zehn Leute an zehn Orten befragen. Er möchte die gegenwärtige gesellschaftliche Situation verstehen und ist überzeugt davon, dass er dazu "die Erfahrungen der Menschen zum Sprechen" bringen muss, um herauszufinden, "woher diese Unzufriedenheit kommt, diese Angst, die manche in die falsche Richtung treibt".

Karl Hellmann interessiert weniger die Erforschung von persönlichem Glück als die kollektive Lebenszufriedenheit, denn er "möchte in einer Gesellschaft leben, die so gut ist, dass keine Hoffnungen auf ein Leben nach dem Tod aufgespart werden müssen".

Kein Zufall ist, dass Karl Hellmann Fragen umtreiben, die auch Anna Weidenholzers Schreiben motivieren. Sie setzt in ihrem zweiten Roman Weshalb die Herren Seesterne tragen ihre anteilnehmende Erkundung der österreichischen Provinz fort, die sie in ihren ersten Büchern, dem Erzählband Der Platz des Hundes und dem Roman Der Winter tut den Fischen gut begonnen hat.

Schon ihre poetischen Titel machen neugierig -, um Tiere geht es aber nur am Rande. Die Bücher der begnadeten literarischen Sozialforscherin zeichnet vieles aus, die raffinierte Erzählweise, der Blick für alltägliche Absurditäten und die vielen Aussparungen, Andeutungen, Geheimnisse und nicht gelösten Rätsel.

Bruchlinien

Anna Weidenholzer schaut genau hin auf die Verwerfungen und Bruchlinien unserer Gesellschaft, die heute zwischen Stadt und Land verlaufen, informiert sich bei der Sozialforschung, recherchiert umfangreich und stützt sich auf ihre Erfahrungen als Journalistin bei einer Regionalzeitung.

Ihre leise und lakonisch erzählten Geschichten über erfundene Figuren, ihre ebenso eigensinnige wie eigenständige Sprache fallen auf im lauten Literaturgetriebe und weisen sie als eine besonders wichtige literarische Stimme ihrer Generation aus.

Weidenholzers Geschichte der langzeitarbeitslosen Textilverkäuferin Maria Beerenberger (Der Winter tut den Fischen gut), die mit ihren 49 Jahren zwar nicht alt, aber zu alt für ihren Beruf ist, schaffte es auf die Short-List der Leipziger Buchmesse 2013, der Roman Weshalb die Herren Seesterne tragen wurde für die Long-List des Deutschen Buchpreises 2016 nominiert.

Nach vierhundertneunundsechzig Kilometern Autofahrt landet Karl Hellmann in einer jener aussterbenden Gemeinden, die bessere Zeiten gesehen haben, weil die Wintertouristen ausbleiben, seit es kaum mehr Schnee gibt in dieser Höhe. Deshalb ist die Wirtin im unwirtlichen Hotel Post, in dem Karl Hellmann als zunächst einziger Gast ein Zimmer bezieht, davon überzeugt, dass die Welt an der Wärme zugrunde geht. Sie rät zum Energiesparen und zum Abdrehen der Heizung. Aus den geplanten zwei Wochen Aufenthalt werden sechs Wochen, doch Karl kommt nicht voran mit seinen Forschungen.

Die ausgewählten Menschen geben nur ungern Antworten auf die gestellten Fragen, schweifen ab, weichen aus und erzählen von intimen Dingen, die Karl gar nicht wissen möchte. Immer öfter verliert er die Distanz zu den Interviewpartnern, freundet sich mit ihnen an und häufig rutscht er von der Rolle des Fragenden in die des Befragten wie im Gespräch mit der Wirtin, die ihm schließlich Tarotkarten legt.

Doch obwohl oder vielleicht gerade weil Karl Hellmanns Forschungen scheitern, entsteht das präzise Stimmungsbild eines dörflichen Mikrokosmos. In diesem sind die Herren mit den Seesternen schon am Nachmittag in einer zum Imbiss umfunktionierten aufgelassenen Tankstelle beim Biertrinken anzutreffen.

Anna Weidenholzers Romane folgen keiner linearen Chronologie, wie überhaupt Zeiten und Räume in schnellen Schnitten durcheinandergewirbelt werden. Weshalb die Herren Seesterne tragen setzt ein mit der überstürzten Heimreise des Protagonisten, dem Gerüchte um seine Person zu Ohren gekommen sind.

Die Kapitel tragen als Überschriften die Kilometerangaben der Entfernung von Zuhause, die meisten allerdings verweisen mit der Zahl dreihundertvierundsiebzig auf Karls Übernachtung in einem Autobahnhotel und auf einen Stillstand, bis er im letzten Kapitel endlich am Jupiterweg 7 ankommt.

Sprünge und Leerstellen

In Rückblenden reflektiert er seine Erfahrungen, dabei gibt es viele Sprünge und Leerstellen. Auch die Perspektive wechselt von der Innensicht Karls zur Außenperspektive einer Erzählerstimme und bisweilen muss man bei der Lektüre aufpassen, die Orientierung nicht zu verlieren.

Ständige Begleiterin in Karls Kopf ist die gleichzeitig ständig abwesende und anwesende Ehefrau, mit der er meistens imaginäre Dialoge führt und deren pragmatische Lebenshaltung er an seiner Seite vermisst. Karl Hellmann ist ein einsamer, unsicherer Mann, der nicht nur sich selbst verliert, sondern auch seine Frau. Denn er muss sich eingestehen, dass er "dieses Katastrophen-, dieses Krisengefühl" kennt: "Wir wissen nicht, was danach kommen soll, diese Angst vor der großen Unbekannten, auf die wir zusteuern, als Betroffene und Beobachtende zugleich."

Anna Weidenholzer gelingt in ihrem tieftraurigen, aber nie hoffnungslosen Roman Weshalb die Herren Seesterne tragen die beeindruckende literarische Erforschung gesellschaftlicher Mentalitäten, ohne Antworten und Erklärungen zu geben. Ihr Protagonist Karl Hellmann formuliert bei seiner Heimkehr mit dem Blick auf die Zukunft einen Wunsch, der gleichermaßen Anna Weidenholzers Schreiben treffend charakterisiert: "Wir dürfen nicht aufhören, Fragen zu stellen und wir müssen viele sein." (Christa Gürtler, Album, 8.12.2016)