So glänzend der Sieg Van der Bellens war, so jämmerlich war er darum gleichzeitig. Wie Gladiatoren im alten Rom standen er und Hofer in albernen und entwürdigenden Schaukämpfen einander gegenüber.

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Stefan Müller-Doohms Biografie des zu Unrecht in Vergessenheit geratenen radikalen deutschen Gesellschaftskritikers der 50er- und 60er-Jahre, Theodor W. Adorno, hat mir viele Einsichten gewährt. Insbesondere gibt sie den Abriss einer Zeit, in der die deutsche Demokratie noch jung war und unter den Intellektuellen durchaus große Unsicherheit herrschte, ob sie sich halten oder ob sich ein Rückfall in den Faschismus ereignen würde.

Es ist erstaunlich, wie vieles, was damals diskutiert wurde, heute noch von höchster Brisanz ist. So musste schon Adorno sich die Frage stellen, wieso die Menschen sich in einer Gesellschaftsordnung als "fremdbestimmt" erfahren, die doch theoretisch auf "Selbstbestimmung" beruhe. Man begriff, dass "das System der Demokratie eine voraussetzungsvolle Form politischer Herrschaft sei, das der selbstbestimmten Einflußnahme mündiger Subjekte bedarf". Und Adornos Schüler Jürgen Habermas protestierte gegen "jenes falsche Demokratieverständnis, wonach die Macht des Volkes darauf beschränkt werde, getroffenen Regierungsentscheidungen bloß zu akklamieren".

Antidemokratische Tendenzen in der EU

Ich sehe nirgendwo, dass etwas von dieser subtilen Voraussetzungsfülle echter Demokratie heutigen Politikern bewusst wäre. Die derbe Auffassung, dass das Volk bloß Beschlüsse zu akzeptieren habe, ist ganz im Gegenteil Alltag in der EU geworden. Das zeigten insbesondere kürzlich die hochmütigen Reaktionen nicht nur von EU-Granden, sondern leider ebenso von Journalisten auf den Widerstand gegen Ceta. Man bezeichnete etwa die Wallonen als "stur" und die globalisierungskritische Organisation Attac als "manisch" und so weiter.

Umso schlimmer sind solche Aussagen, als den betreffenden Personen der antidemokratische Charakter ihrer Wortmeldungen gar nicht bewusst ist. Erst vor dem Hintergrund eines derart in Auflösung befindlichen Demokratiebegriffs ist aber der Aufstieg des europäischen Rechtspopulismus überhaupt zu verstehen.

Das Volk als bloßer Mehrheitsbeschaffer

Letztlich vollenden Le Pen, Petry und Strache nur das, was die Mitte der EU ihnen jahrzehntelang vorgelebt hat: das Volk lediglich als etwas zu betrachten, von dem man sich die Mehrheit abzuholen hat, damit man die Macht hat, die man gerne haben möchte. Wenn das nicht funktioniert, ist man betroffen bis empört und verfasst Analysen. Die Menschen werden, je nach Gefügigkeit, entweder als den eigenen Machtansprüchen dienlich oder als lästige "Blockierer" und "Verhinderer" wahrgenommen. Hier sind das Establishment und die Populisten einander ähnlicher, als beide Seiten zugeben würden.

Die "offene Gesellschaft" Poppers

In den österreichischen Medien beschwört man freilich lieber regelmäßig die "offene Gesellschaft" Karl Poppers, anstatt sich an seinen seinerzeitigen Kontrahenten Theodor W. Adorno zu erinnern. Etwa Sozialpsychologe Harald Welzer bei den Medientagen in Lech oder STANDARD-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid in ihrem ersten Kommentar nach dem Sieg Van der Bellens. Meines Erachtens sollte man aber gerade im Zusammenhang mit der derzeitigen Krise der Demokratie Poppers Thesen einer kritischeren Überprüfung unterziehen, als das gemeinhin geschieht.

Für Popper funktioniert Demokratie einfach wie ein Markt. Er vertraut in ihre automatische Selbstregulation nicht weniger naiv als in die der freien Marktwirtschaft. Letztlich ist es ein sozialdarwinistisches Bild von Demokratie. Die Besseren werden sich durchsetzen. Und wenn nicht, dann kann man sie wieder abwählen.

"Demokratisch" in den Faschismus

Das Problem eines solchen äußerlichen, bloß formalen beziehungsweise technokratischen Demokratiebegriffs besteht darin, dass der Politiker dadurch zu einer Art Ware wird und sich den Menschen wie eine solche anpreisen muss, anstatt dass jene selbst über ihr Leben bestimmen. Am Ende dieses Verdinglichungsprozesses wird Demokratie aber selbst zur Ware und ist als solche austauschbar gegen andere politische Systeme. So erklärt sich das Paradoxon, dass man ganz demokratisch den Faschismus wählen kann.

So glänzend der Sieg Van der Bellens war, so jämmerlich war er darum gleichzeitig. Wie Gladiatoren im alten Rom standen er und Hofer oder Trump und Clinton in albernen und entwürdigenden Schaukämpfen einander gegenüber. Und dann geht es wie im Zirkus darum, wer mehr Daumen rauf oder runter bekommt. Zufällig war nun Van der Bellen der Sieger, es hätte jedoch genauso gut anders ausgehen können.

Dass aber wahrhafte und an ihrer eigenen Aufgeklärtheit interessierte Demokratie nicht nur den Machtanspruch dessen bedeuten würde, der gerade zufällig am politischen Markt ein paar Prozentpunkte mehr hat, sondern die fortwährende radikale dialektische Selbstreflexion und Selbstkritik einer Gesellschaft – dafür fehlt weitgehend das Verständnis. (Ortwin Rosner, 9.12.2016)