Pisa-Chef Andreas Schleicher sagt, dass das österreichische Bildungssystem noch immer geprägt ist von mangelnder Chancengerechtigkeit.

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Wien – Nach dem erneut nur mittelmäßigen Abschneiden Österreichs bei Pisa-Studie rät OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher der Regierung, bei bildungspolitischen Reformen Druck zu machen: "Österreich hat vielversprechende Pläne, es ist Zeit diese konsequent umzusetzen."

Konkret sagt der Pisa-Chef im STANDARD-Interview unter Verweis auf den hohen Anteil an "Risikoschülern", Österreich sei "hier mit der Ganztagsschule auf einem guten Weg, um den Schulen mehr Möglichkeiten zu schaffen, Lerndefizite zu bewältigen und Talente zu finden und zu fördern." Diese Kinder müssten viel früher individuell gefördert werden. Da seien Länder wie Deutschland und Finnland schon weiter.

Die Gewährleistung von Chancengerechtigkeit für alle Kinder "bleibt für Österreich eine der wichtigsten Herausforderungen für Bildungspolitik und -praxis". Grundsätzlich sagt Schleicher zu Österreichs Entwicklung seit der erste Pisa-Studie 2000: "In den Klassenzimmern hat sich zu wenig verändert."

STANDARD: Österreich ist bei der neuen Pisa-Studie erneut nur im Mittelfeld gelandet. Unsere Jugendlichen waren diesmal etwas schlechter als 2012, damals etwas besser als 2009. Es ist ein Wellental. Was sagt das über die Bildungspolitik, die dem zugrunde liegt?

Schleicher: Man sollte kleine Schwankungen nicht überbewerten. Berücksichtigt man demografische Veränderungen, so sind die naturwissenschaftlichen Leistungen österreichischer 15-Jähriger seit 2006 praktisch gleich geblieben. Genauso sieht es in den anderen Wissensgebieten aus. Aber genau dort liegt das Problem. Die Leistungen liegen weit unter dem Potenzial Österreichs, das Land sollte sich an den leistungsfähigsten Bildungssystemen messen. Es lohnt sich auch ein Blick über das Länderranking hinaus: Während Österreichs Schüler bei der Reproduktion von naturwissenschaftlichem Fachwissen noch ganz gut abschneiden, fällt es ihnen schwer, wie ein Naturwissenschafter zu denken und ihr Wissen auf neue und komplexe Problemstellungen zu übertragen. Das ist es aber, worauf es heute ankommt. Die moderne Gesellschaft belohnt uns nicht alleine für das, was wir wissen – Google weiß alles –, sondern dafür, was wir mit dem, was wir wissen, tun können.

STANDARD: Welche Erklärungen gibt es für die starken Leistungen der dominierenden Länder und Regionen in Fernost? Anderer Unterricht oder anderes "Schulethos", das hier wirksam wird?

Schleicher: Bildung hat in diesen Staaten einen besonders hohen Stellenwert. Die Chinesen investieren ihr letztes Geld in ihre Zukunft, die Bildung ihrer Kinder. In Europa haben wir das Geld ja schon für unseren Konsum ausgegeben, deshalb sind wir heute hochverschuldet. Darüber hinaus stecken sich die Asiaten hohe Ziele und glauben an den Erfolg aller Kinder. So erzielen die zehn Prozent der benachteiligtsten Schüler in Vietnam Leistungswerte, die sich an den mittleren Leistungswerten österreichischer Schüler messen können. Wir sehen dort aber auch überaus dynamische Schulen. Traditionell sind Lehrer und Schulen in Österreich die letzte ausführende Instanz eines überaus komplexen Verwaltungsapparats. Die leistungsfähigsten Schulsysteme hingegen messen sich daran, was die Schule als selbstständige und pädagogisch verantwortliche Einheit leisten kann, die den individuellen Lernfortschritt in den Mittelpunkt stellt und Verantwortung für ihre Ergebnisse übernimmt.

STANDARD: Was bedeutet das konkret?

Schleicher: Ihren Lehrern gelingt es, das Potenzial aller Schüler zu mobilisieren, die außergewöhnlichen Fähigkeiten gewöhnlicher Schüler zu entdecken und zu fördern durch Lehr- und Lernformen, die nicht defizitär angelegt sind, sondern wirklich auf den einzelnen Schüler zugeschnitten. Ebenso zeichnen sie sich durch ein Arbeitsumfeld aus, dessen Attraktivität nicht auf dem Beamtenstatus, sondern auf Kreativität, Innovation und Verantwortung beruht und das Differenzierung im Aufgabenbereich, Verantwortung für Lernergebnisse und gute Unterstützungssysteme anbietet, sodass Lehrer am Ende nicht als Einzelkämpfer im Klassenzimmer stehen. Ein Lehrer in Singapur unterrichtet weniger Stunden als ein Lehrer in Österreich und arbeitet trotzdem mehr. Dazu gehören über 100 Stunden Weiterbildung pro Jahr, die gemeinsame Vor- und Nachbereitung von Unterricht mit den Kollegen, regelmäßige Konsultationen mit Eltern und die individuelle Unterstützung von Kindern mit besonderem Förderbedarf.

STANDARD: Seit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 hat ein österreichischer Schülerjahrgang die komplette Schulpflicht hinter sich gebracht – offenbar hat die Bildungspolitik für diese Schüler zu wenig oder das Falsche getan.

Schleicher: Ja, in den Klassenzimmern hat sich zu wenig verändert. Stellen Sie sich einen Chirurgen und einen Lehrer aus den 60er-Jahren vor, die eine Zeitreise in unsere Gesellschaft machen. Der Chirurg, der zu seiner Zeit mit dem im Studium erarbeiteten Wissen und einem Koffer mit Instrumenten als Einzelperson erfolgreich sein konnte, ist im Jahr 2016 in eine sich dynamisch entwickelnde Profession eingebettet, mit der er im ständigen Austausch steht und die ihm mehr bedeutet als das Krankenhaus, in dem er arbeitet. Er wird konfrontiert mit einem hochtechnologisierten Arbeitsplatz, an dem er seine Arbeit nur als Teil eines komplexen Teams bewältigen kann. Der Chirurg wird schnell zu der Erkenntnis kommen, dass ein Zeitsprung von einem halben Jahrhundert ihn völlig abgehängt hat. Und der Lehrer? Er findet sich vielleicht noch heute zurecht, weil sich seine Arbeitsumgebung nicht grundlegend geändert hat.

STANDARD: In Österreich gehört jeder dritte Schüler in zumindest einem Testgebiet in die Gruppe der "Risikoschüler", die "gravierende Mängel" aufweisen, in Finnland sind es nur 18 Prozent, auch in Deutschland mit 24 Prozent deutlich weniger. Mehr als ein Zehntel der österreichischen Schülerinnen und Schüler sind sogar in allen drei Gebieten in der Risikogruppe – 13 Prozent versus sechs Prozent in Finnland. Was machen diese Länder anders oder besser?

Schleicher: Entscheidend sind gute und frühzeitige Diagnostik und individuelle Unterstützung. Die Kompetenzen, die den Schülern in der Risikogruppe fehlen, lernt man ja nicht mit 15 Jahren, sondern in der Grundschule. Allerdings ist Österreich hier mit der Ganztagsschule auf einem guten Weg, um den Schulen mehr Möglichkeiten zu schaffen, Lerndefizite zu bewältigen und Talente zu finden und zu fördern. Auf diesem Weg sind Länder wie Finnland und Deutschland schon weiter.

STANDARD: Deutlich zugenommen hat in Österreich der Geschlechterunterschied in den Naturwissenschaften. Buben erzielten im Schnitt 19 Punkte mehr als die Mädchen – mehr als doppelt so viel wie in den drei Tests davor. Das ist der negative Spitzenwert in der OECD. Dass das nicht "naturgegeben" ist, zeigt Finnland, wo die Mädchen in den Naturwissenschaften 19 Punkte mehr erzielen. Wie ist dieser große Geschlechterunterschied erklärbar?

Schleicher: Größer noch als die Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen sind die Unterschiede in den Einstellungen zu den Naturwissenschaften: Weniger als fünf Prozent der österreichischen Mädchen sehen in den Natur- und Ingenieurswissenschaften eine Berufsperspektive, bei den Jungen sind es mehr als dreimal so viele.

STANDARD: Kinder von höher gebildeten Eltern schneiden noch immer deutlich besser ab: Sie erreichen in allen drei Gebieten fast 100 Punkte mehr als Kinder von Eltern mit lediglich Pflichtschulabschluss, das entspricht rund zwei Lernjahren. Gilt also noch immer der von vielen auch als Killerphrase kritisierte Satz "Bildung wird vererbt"?

Schleicher: Ja, Chancengerechtigkeit zu gewährleisten bleibt für Österreich eine der wichtigsten Herausforderungen für Bildungspolitik und Praxis.

STANDARD: Auch in Deutschland ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg recht stark. Dort ist es aber gelungen, ihn deutlich abzuschwächen. Wie?

Schleicher: Bei der Förderung von Schülern mit Migrationshintergrund wurden in Deutschland große Fortschritte gemacht. Außerdem ist das Bildungssystem durchlässiger und flexibler geworden. Mehr Transparenz und gerechtere Leistungsbewertungen haben darüber hinaus dazu beigetragen, dass Leistungsdefizite frühzeitig erkannt werden.

STANDARD: Erich Neuwirth, ehemaliger Professor für Statistik an der Universität Wien, hinterfragte im STANDARD Österreichs Pisa-Verschlechterung. Wegen des Umstiegs auf Computertestung und der fehlenden Vergleichsbasis gegenüber den früheren Papiertests sei "bei weitem nicht statistisch gesichert, dass wir uns verschlechtert haben. Vor allem, weil die Verschlechterung zum größten Teil nur bei den Mädchen festgestellt wird", sagt er. Welche Aussagekraft hat das in Punkten abgebildete Pisa-Minus Österreichs denn nun wirklich?

Schleicher: Wir haben den Übergang zu computerbasierten Tests über viele Jahre sehr sorgfältig vorbereitet und durch Zusatzstudien sichergestellt, dass den Schülern in den teilnehmenden Staaten daraus keine Nachteile entstehen. Es ist richtig, dass sich länderspezifische Abweichungen ergeben könnten, aber ich halte es für schwer vorstellbar, dass österreichische 15-Jährige so viel größere Schwierigkeiten im Umgang mit Computern haben als ihre Mitschüler in Deutschland, Finnland, Portugal, Indonesien oder Peru.

STANDARD: Wenn Sie Bildungsminister in Österreich wären – wie würden Sie auf die neuen Ergebnisse der Pisa-Studie reagieren?

Schleicher: Ich glaube, Österreich hat vielversprechende Pläne. Es ist Zeit, diese konsequent umzusetzen. (Lisa Nimmervoll, 13.12.2016)