Wien – Wie ein Verrückter sei er herumgelaufen. Er habe geschrien, gar nicht gewusst, wohin mit der Energie. Im Jahr elf nach der Bandgründung war es so weit. R.E.M. toppten die Albumcharts in den USA. Da darf man schon einmal kurz durchknallen.

Mike Mills, Michael Stipe, Peter Buck und Bill Berry zur Zeit ihres Welterfolgsalbums "Out of Time". Zum 25-jährigen Jubiläum ist dieser Meilenstein mit allerlei Boni neu aufgelegt worden.
Foto: Frank Ockenfells III

Out of Time kletterte, nein, flog ganz nach oben. Michael Stipe erinnerte sich in den folgenden Jahren oft an diese Zeit. An diese Zeitenwende, die sich damals schon länger angekündigt hatte, aber erst 1991 vollzogen wurde. Was als Underground die College Radios ein Jahrzehnt lang fest im Griff hatte, überrannte die letzten Stellungen des alten Mainstreams. Den Anfang machte Out of Time im Frühling, den Rest besorgten im Herbst Nirvana mit Nevermind.

Gabentischtauglich

Ein Vierteljahrhundert ist das her. Während die Nirvana-Nachlassverwertung heuer ruhighielt, wurde Out of Time zum Jubiläum neu aufgelegt, erweitert um Demo- und Liveaufnahmen, mit DVD und Blu-Ray, als Dreifach-Vinyl, das volle Gabentischprogramm.

Der Schlüssel zum Erfolg war eine Single. Ohne Losing My Religion, sagte Bassist Mike Mills später, hätte sich Out of Time vielleicht zwei, drei Millionen Mal verkauft. Doch mit Losing ... gingen von dem Album weltweit 18 Millionen Stück über die Budl.

"Losing My Religion" – der Schlüssel zum Welterfolg des Albums "Out of Time".
remhq

Nach 1991 war nichts mehr wie davor. MTV multiplizierte die Erfolge der Bands, die mit diesem Dammbruch in den Mainstream gespült wurden, manche hielten sich, manche nicht. R.E.M. waren da längst ein etablierter Act.

Eine Band als Lebensentwurf

Der Autor Michael Azzerad verfasste über den US-Underground der 1980er-Jahre ein Standardwerk. Es heißt Our Band Could Be Your Life und porträtiert die Wegbereiter dieses Umbruchs. R.E.M. fehlen darin. Doch nur, weil sie seit jeher bei einem mit Major-Labels verbundenen Verlag veröffentlicht hatten. Von ihrem Einfluss her waren sie gleichbedeutend wie Hüsker Dü, die Minutemen, Sonic Youth oder andere von Azzerad Lorbeer empfangende Bands.

R.E.M. waren progressive Traditionalisten, denen Punk einen Weg geöffnet hatte. Aus Athens in Georgia stammend, hatten sie das Glück und das Pech, als Provinzband zu gelten. Abseits der Metropolen an den Küsten entwickelten Michael Stipe, Peter Buck, Mike Mills und Bill Berry im Hinterland ihre Handschrift, ihren Stil.

Der gipfelte 1987 in dem Album Document. Dieses betörte mit Songs wie The One I Love, It's the End of the World as We Know It (and I Feel Fine) oder Finest Worksong, das waren allesamt populäre College-Radio-Hits. Ihr nächstes Album Green (1988) erschien konsequenterweise beim Major Warner.

"Finest Worksong" – feinster Song vom Album "Document".
emimusic

Dort sträubte man sich gegen Losing My Religion als Single. Der Country-Touch der darin dominierenden Mandoline sei zu untypisch für die Band, doch die blieb drauf. Zwölf Jahre republikanische US-Präsidentschaft waren im Begriff, zu Ende zu gehen, die Reagan-Ära hatte Bands wie R.E.M. geprägt und notwendig gemacht, jetzt gab es keine Kompromisse mehr, und die Geschichte sollte ihnen recht geben.

Politische Agenda

Und sie schrieben sie mit: R.E.M. stellten den ungenützten Platz der damals verkauften CD-Longboxes der Bewegung Rock The Vote zur Verfügung, die für eine Vereinfachung der Wahlzulassungsregistrierung für Jungwähler kämpfte. Deren Erfolg war der Erfolg Bill Clintons, der 1992 die Präsidentschaftswahl für sich entscheiden konnte.

Bereits der Opener des wie eine Prophezeiung an die Republikaner betitelten Albums war ein kleines Manifest. In Radio Song erhob Rapper KRS-One seine Stimme. Eine Geste, die die breite gesellschaftliche Front verdeutlichte, die hier als neue Generation antrat. Im Jahr davor hatten Sonic Youth mit einem Gastauftritt von Public Enemys Chuck D. diese Idee erstmals umgesetzt.

Gespaltene Fangemeinde

R.E.M. gelang es mit Out of Time, ein Lebensgefühl zu vermitteln. Mit dem Album verwirklichte sich einerseits der amerikanische Traum, andererseits standen R.E.M. für ein anderes Amerika, ein liberales und weltoffenes, das nicht für Öl in den Krieg ziehen wollte. Ihr Triumph war ein Triumph der besseren Reichshälfte, ein Sieg, den man angesichts der dräuenden Trump-Ära melancholisch memoriert.

Dabei war nicht alles Gold auf Out of Time. Das Lied Shiny Happy People spaltete die Fans in jene, die es hassten, und jene, die der Band diesen oberflächlichen Popsong gönnten. Die wahre Stärke des Albums liegt aber in den geheimen Hits.

Gefühlsintensiv und routiniert

Da gibt es das mit seinem routinierten Pessimismus glänzende Low, das gefühlsintensive Half a World Away oder den großen Popsong aus der zweiten Reihe: Near Wild Heaven. Titel, die heute noch nicht aus der Zeit gefallen sind, etwas, das sich beim Wiederhören über das ganze Album sagen lässt.

Ein Hit aus der zweiten Reihe: "Near Wild Heaven".
remhq

Im neu geordneten Mainstream produzierten R.E.M. noch zwei Alben von ähnlicher Qualität. Das 1992 erschienene Automatic for the People und 1996 New Adventures in Hi-Fi. Keines kam dem kommerziellen Erfolg von Out of Time nahe. R.E.M. blieben Stars mit Kontakt zum richtigen Leben, ihre Alben wurden jedoch weniger zwingend, einige fad, andere verendeten ambitioniert.

Nach 15 Studioarbeiten ließen es R.E.M. 2011 gut sein. Ihre Geschichte war geschrieben, sie hatten Geschichte geschrieben. Wenige Bands können das von sich behaupten. (Karl Fluch, 16. 12. 2016)