Viele Mütter fühlen sich vierundzwanzig Stunden am Tag fremdbestimmt. Sieben Tage die Woche.

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Alte Bekannte sorgen sich hörbar hinter Karins Rücken: "Mit drei kleinen Kindern kann das nicht gutgehen." Karin (alle Namen im Text geändert), die ein Jahr zuvor als Reststundenlehrerin in den Schuldienst eingestiegen ist, soll ihre erste eigene Klasse übernehmen. Die skeptischen Bekannten beeindrucken sie nicht, sie hat schon andere Schwierigkeiten gemeistert: Das Studium trotz ungeplanter früher Mutterschaft, den Hausbau auf dem lang gesuchten Traum-Grundstück im niederösterreichischen Alpenvorland, den Studienabschluss, Zusatzausbildungen, zwei weitere Kinder

Jetzt ist Karin knapp über dreißig, die jüngste der drei Töchter ist im Kindergarten, sie selbst "aus dem Gröbsten heraus". Zeit, ihren Beruf endlich voll auszuüben, halbe Sachen mag sie nicht. Ihr Mann Christoph steht hinter ihr, Eltern und Schwiegereltern versprechen, wenn nötig, auszuhelfen, die Direktorin freut sich über die bestens qualifizierte, bei Kindern und Eltern beliebte Lehrerin. So begann der Herbst 2015.

Heute, über ein Jahr später, ist Karin im Krankenstand. Sie besucht wöchentlich eine Psycho- und eine Physiotherapie und fragt sich, ob die Zweifler nicht doch Recht hatten. Die Diagnose: völlige Erschöpfung, vulgo Burnout.

30 Prozent mehr Erschöpfte

Eine Kombination aus hohem Zeitdruck, komplexen Aufgaben, zu wenigen Freiräumen und geringem Feedback ist für das Syndrom verantwortlich, das vor allem Menschen mit hohem Engagement betrifft: Menschen in Führungspositionen, in sozialen Berufen – und zunehmend Frauen, die sich täglich abrackern, um Job, Kinder und Beziehungsleben in 24 Stunden unterzubringen.

Das deutsche "Müttergenesungswerk", eine 1950 von der Sozialpolitikerin Elly Heuss-Knapp gegründete gemeinnützige Stiftung, gibt an, dass sich die Zahl der Mütter mit Erschöpfungssyndrom von 2004 bis 2012 um mehr als dreißig Prozent erhöht hat. "Das Frauenbild hat sich gewandelt. Es ist anspruchsvoller geworden, Mutter zu sein", sagt Geschäftsführerin Anne Schilling.

Sozialer Druck

Auch Karins Geschichte liest sich wie ein Lehrbuchbeispiel für die Umstände, die Mütter in die Überforderung und schließlich in den Zusammenbruch treiben: Das erste Jahr mit der eigenen Klasse geht sie mit vollem Einsatz an, bereitet jede Stunde gewissenhaft vor, erstellt stapelweise Unterrichtsmaterialien, organisiert Lehrausgänge und ist auch abends für die Sorgen und Anliegen der Eltern telefonisch erreichbar. "Es war ein tolles Schuljahr", sagt Karin.

Ihr Alltag beginnt früh: Der Wecker läutet um viertel vor Sechs, eine Viertelstunde später muss die älteste Tochter aus den Federn, um den Bus zum Gymnasium nicht zu versäumen. Um halb sieben geht Karin mit der Gymnasiastin außer Haus, die jüngeren Schwestern übernimmt Christoph. Um sieben ist sie an ihrem Arbeitsplatz und bereitet den Unterricht vor, um halb acht kommen die Kinder in die Klasse. In den zwei Stunden nach dem Schulunterricht korrigiert Karin Hefte, dann springt sie ins Auto, um die beiden jüngeren Töchter spätestens um vierzehn Uhr aus Volksschule und Kindergarten abzuholen. Beide länger betreuen zu lassen, wäre zwar möglich, aber: "Das macht bei uns niemand." Sozialer Druck ist die Kehrseite der oft gepriesenen "Wahlfreiheit" bei Kinderbetreuung.

Die eigenen Kinder will Karin keinesfalls vernachlässigen. Die Mädchen sind sportlich und musikalisch, Karin bringt sie an den Nachmittagen in den Musikunterricht, zum Turnen, Tanzen und Eislaufen. Familientaxi zu sein ist der Preis für das Leben im Grünen, nach dem sie sich während der Studienjahre in einer kleinen Stadtwohnung gesehnt hat. Christoph kann sie dabei kaum unterstützen: Er hat eine neue Position in der Firma, die spannend, aber auch verantwortungsvoll ist – manchmal wird es da eben später.

Nur eine Viertelstunde

Die Turnstunde mit Freundinnen und den Chor gibt Karin schnell wieder auf: Zu oft muss sie abends arbeiten oder ist einfach zu müde. "Eigentlich war die einzige Zeit, die ich für mich hatte, die Viertelstunde in der Früh", erzählt Karin. "Die war nicht sonderlich aufbauend. Ich versuchte, mich halbwegs ansehnlich herzurichten, obwohl ich in letzter Zeit so eine schlechte Haut hatte." Eine der Hauptursachen für Burnout sei Fremdbestimmtheit, sagt Elterncoach Sandra Teml-Jetter von der Wiener Beratungs- und Coachingpraxis "Wertschätzungszone". "Vor allem Mütter fühlen sich oft vierundzwanzig Stunden am Tag fremdbestimmt, sieben Tage die Woche." Schuld sei eine "klassische Frauenfalle": "Viele Mütter neigen dazu, in jeder Situation zuerst an die Kinder zu denken statt an sich selbst. Fragen Sie einmal eine Mutter, ob sie bei einem Notfall im Flugzeug zuerst sich oder zuerst ihrem Kind die Sauerstoffmaske aufsetzen würde. So manche entscheidet sich für das Kind und erstickt dabei selbst."

Gerade auf Karin trifft dieses Bild zu: Das Gefühl, wegen eines Fremdkörpers im Hals nicht frei atmen zu können, medizinisch "Globusgefühl" genannt, ist das letzte einer langen Serie an körperlichen Alarmsignalen, die sie während des laufenden Schuljahres beiseite schiebt. Sie geht immer wieder halb krank in die Schule, leidet unter Kopfschmerzen, irgendwann bleibt die Regel aus. Für den Frauenarzt ist das zunächst kein Grund zur Sorge. Nach einigen Monaten fragt er genauer nach und vermutet einen Zusammenhang mit Überlastung. Der Spezialist für Akupressur meint schon während der ersten Sitzung: "Sie müssen dringend etwas ändern." Nur was? Dann kommt das Engegefühl im Hals.

Müsste ihr die Schule nicht abgehen?

Auf Anraten der Direktorin ringt sich Karin durch, die Klasse abzugeben. Wegen Bauchschmerzen geht sie kurz darauf zum Arzt, der sie sofort in den Krankenstand und zu einer klinischen Psychologin schickt. Seither ist sie in psychotherapeutischer Behandlung, kümmert sich um ihren vernachlässigten Körper und versucht zu verstehen, wie sie in diese Lage geraten ist. Eine Rückkehr an die Schule kann sie sich derzeit nicht vorstellen, dazu fehle ihr die Kraft, sagt sie. Gleichzeitig kämpft Karin mit schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen gegenüber ihren Kolleginnen: Müsste ihr die Schule nicht viel stärker abgehen?

Es gibt wohl viele Karins in Österreich. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich rasch finden: Traditionelle Rollenmuster sind fest im kollektiven Bewusstsein verankert und treiben Mütter, die zwar arbeiten, aber wie Karin "nichts halb machen" wollen, in die Erschöpfung.Väter machen sich rar Und die Väter? Statistisch betrachtet bleiben sie in der Kindererziehung eine vernachlässigbare Größe. Nur 4,2 Prozent aller Kinderbetreuungstage werden laut dem Forschungsinstitut "Joanneum Research" von den Vätern übernommen. Diese gehen zwar häufiger in Karenz als früher, aber meist zu kurz, um am Ungleichgewicht etwas zu ändern. Und die Männer nehmen kaum Elternteilzeit in Anspruch: Nur 5,6 Prozent der österreichischen Väter arbeiten laut Statistik Austria Teilzeit.

Christoph nahm nach der Geburt der jüngsten Tochter immerhin fünf Monate Väterkarenz in Anspruch, das war aber in einem anderen Job. In der jetzigen Firma glaubt er, dass ein Wunsch nach Elternteilzeit seine Karriere gefährden würde. Karin hat in beruflicher Hinsicht resigniert. Noch einmal vor die Wahl gestellt, würde sie mit dem vollen Wiedereinstieg länger warten, schließlich arbeiten auch die anderen Mütter in ihrem Umfeld höchstens vormittags. Noch immer nagt in ihr ein Satz, mit dem die jüngste Tochter sie regelmäßig um vierzehn Uhr im Kindergarten begrüßt hat: "Die anderen dürfen schon früher heim." (Georg Renöckl, 10.1.2017)