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Beginnen wir dort, wo die Geschichte beginnt: in der Asservatenkammer der Staatsanwaltschaft. Was da herumliegt! Falsche Picassos, Handys, Waffen, Betäubungsmittel, Rauschgifte aller Art und sonder Zahl – ein Autor mit mehr krimineller Energie hätte Oskar Brunngraber zum Dealer und Hehler werden lassen müssen. Ludwig Laher aber macht seinen Justizverwaltungsinspektor, lange Jahre schon im Dienst von Sicherheit und Ordnung, nur zum Plauderer.

Um ehrlich zu sein: Brunngraber ist ein Schwafler. Nach Handels- und Beweiswert haben die von ihm verwalteten Überführungsstücke, so der betreffende Fachbegriff und zugleich Romantitel, nun Erzählwert. In seiner Fantasie führen sie zu Kinderpornografen und Nazidevotionaliensammlern gleichwie in die Müllverbrennung, wenn sie ihre Dienlichkeit im Gerichtssaal getan haben. Ein Fußballschal kann zum Fan, der damit jemanden gewürgt hat, schließlich genauso gehören wie zum Verfahren wegen Steuerbetrugs in der Vorstandsetage. Man weiß nie.

Verbrecherische Überbleibsel

So spekuliert Brunngraber in seinem niedrigen, stickigen Bunker ("ein Hasenstall ist der reinste Parfümerieladen dagegen"), in dem er die verbrecherischen Überbleibsel üblicherweise allein sortiert, diesmal aber einen Gast hat: nämlich uns Leser. Allerlei weiß er zwecks Feier dieses Anlasses als Beamter aus dem Fußvolk natürlich auch über das abstruse, nicht zu sagen hirnlose Beamtentum der Oberen zu berichten.

Weil wahrlich ein Kritiker nur der sein kann, der seinen Gegenstand verinnerlicht hat, kennt er die "schriftlich erfolgte dienstliche Anleitung zum richtigen Büroraumlüften, und zwar jahreszeitenkompatibel" natürlich nicht weniger in- denn auswendig. Und das ist herrlich.

Denn zum einen dankt man ihm diesen neckischen Gegenentwurf im Genre der Kriminalliteratur in Zeiten von TV-Krimis à la CSI und ihrer forensischen Dramaturgien. Zum anderen ist das sprudelnde Monologisieren, dessen Laher sich stilbildend bedient, ein ganz und gar gekonntes.

Nasses Marihuana

Im Nu etwa hat Brunngraber die zunehmende Überwachung der Gesellschaft registriert. Daneben Trivia wie Schiffsunglücke, wohin sich der Tatort fehlentwickelt, nasses Marihuana. So knapp ist das Nennenswerte oder zumindest Nennensmögliche jeweils verzeichnet, dass es mit einem ganzen Satz hier schon überrepräsentiert wäre. Aber ein jedes Klagen, Hinterfragen und zärtliche Sudern ist am Punkt und trifft. Vollkommen subjektiv und doch fest in dieser unserer gemeinsamen Realität verankert.

Kenner von Lahers Werks wird dies nicht wundern. Vergangenes Wochenende ist der gebürtige Linzer 61 Jahre alt geworden. Ein gutes Dutzend Romane zählt sein OEuvre, seit er vor bald 20 Jahren den Brotberuf als Lehrer an den Nagel gehängt hat. Dazu Lyrik, Essays, Übersetzungen, Hörspiele. 2011 stand er mit seinem dokumentarischen, sozialrealistischen Asylrechtsroman Verfahren (Haymon) auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.

Wahre Biografie

Wie Verfahren liegt – allerdings schaut Laher mit dem Schalk im Blick auf sie – auch Überführungsstücke eine wahre Biografie zugrunde, und die besteht nicht nur aus Arbeit. Ab etwa der Hälfte öffnet sich der Erzählstrom. Statt in das Sammelsurium der Asservatenkammer nimmt Brunngraber uns nun mit zum Mittagessen in sein Lieblingslokal und weiter in das Durcheinander seines Lebens. Wir lernen ihn als Kleinkünstler kennen, der auf seinem Dachboden die Gattung der Stempelgedichte erfindet und als Kabarettist die Provinzbühnen erobert. Und er erzählt von seiner Kindheit.

Die bestechend muffige Enge des Bunkers geht dabei zwar verloren, doch auch die katholische, bayerische Provinz seines Heranwachsens, begonnen bei der Ehe der Eltern bis zum Suizid des Vaters, ist nicht gerade vom Duft der Freiheit durchweht. Die dominante Großmutter benennt der Autor mit herrlichem Humor als "tiefgläubige, aber nie bigotte Frau". Malerei wird Brunngrabers Sehnsucht und Erlösung auch angesichts schulischen Scheiterns.

Landjugendvariationen

Andreas Altmann hat für das Heranwachsen in der Provinz mit Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend (2011) ein famoses Extrembeispiel geliefert. Lahers Variante ist gemäßigter. Ein wenig beschleicht einen zwischen Kriminal- und Familiengeschichte das Gefühl zweier halber Sachen. Gerne hätte man auch allein die erste erzählerisch durchgehalten gelesen.

Als Charakterzeichnung vereint Überführungsstücke aber lapidaren, bodenständigen Humor mit feiner Zunge. Leichthändig und pointiert breitet Laher die (Gedanken-)Welt dieses etwas schrulligen, in seiner stillen Renitenz unheimlich sympathischen Beamtenpoeten aus. (Michael Wurmitzer, Album, 17.12.2016)