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Wie wäre die Weihnachtsgeschichte weitergegangen, hätten Maria und Josef damals in Betlehem nicht wenigstens einen Stall gefunden? Nicht gut, vermutlich. Aber wie genau? Eine Möglichkeit: Josef hätte seiner hochschwangeren Frau die überlebenswichtige, verweigerte Unterkunft am Ende mit Gewalt besorgt. Wäre irgendwo in ein Haus eingedrungen, hätte dazu vielleicht sogar jemanden töten müssen. Aber gäbe es dann überhaupt eine "Weihnachtsgeschichte"?

Nicht durch Betlehem, sondern durch das kalte, regennasse Bjørgvin, einen norwegischen Küstenort, schleppen sich Alida und Asle; zwei Bündel und Asles Fiedel sind all ihre Habe. Beide sind 17, beide haben ihre Väter ans Meer verloren – und beide haben, weil sie sich nicht mehr anders zu helfen wussten, zu diesem Zeitpunkt schon eine unwiderrufliche Grenze überschritten: In Dylgja, ihrem Heimatort, hat Asle erst den Besitzer eines Bootes ermordet und dann noch Alidas Mutter, die ihre ungeliebte schwangere Tochter gar nicht rasch genug loswerden konnte, zum Schweigen gebracht.

Auch in Bjørgvin will niemand den Unverheirateten helfen. Eine mitleidlose, scheinheilige Gesellschaft, die sich mit ihren unmoralischen Angeboten selbst entlarvt. Am Ende dringt das Paar in das Haus einer alten, sich besonders hartherzig äußernden Frau ein; später sieht die restlos erschöpfte Alida, endlich im warmen Bett, wo sie hingehört, wie Asle etwas mit einem Karren wegfährt.

Es ist eine ebenso verstörende wie eindrucksvolle Erzählung über Liebe und Schuld, die der Norweger Jon Fosse bereits 2008 unter dem Titel Andvake (auf Deutsch Schlaflos) veröffentlichte. Es folgten zwei nicht minder düstere Fortsetzungen, Olavs Träume und Abendmattigkeit, die zeigen, wie wenig die Hoffnung auf Neuanfang gegen die Macht der Vergangenheit auszurichten vermag.

Der 56-jährige weltberühmte Dramatiker gilt als der große Unzeitgemäße und Antimodernist der Gegenwartsliteratur. Ein Missverständnis, wie nicht nur ein Blick auf seine avancierten literarischen Mittel zeigt – in Trilogie das raffinierte Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart oder dem Gegensatz von lebendig und tot bis hin zu einer Art Geistergeschichte in der Schlusserzählung. Nicht zu vergessen die alternierenden Figurenperspektiven und eine hypnotisch-eindringliche Prosa mit labyrinthischen, gleichwohl musikalisch-rhythmischen Satzkonstruktionen, die die Ausweglosigkeit der durch Bjørgvin taumelnden Protagonisten widerspiegeln.

"Für mich bedeutet Dichten in die Stille hineinhorchen", erklärte Fosse einmal. Entsprechend ist seine Sprache von maximaler Reduktion und Konzentration geprägt und sein Motivarsenal bemerkenswert schmal: In Fosses Texten geht es um Liebe, Geburt und Tod, um archetypische, von abgrundtiefer Traurigkeit beherrschte Figuren wie See- und Spielmänner. Und um Musik, die sie und Asle, den Sohn eines Spielmanns, überhaupt erst zusammengebracht hat: "und dann findet er die Stelle, wo das Spiel auffliegt, und dann schwebt das Spiel, ja ja ja es schwebt ja und jetzt braucht er nicht mehr draufloszufiedeln, jetzt schwebt das Spiel ja ganz von selbst auf und davon und spielt seine eigene Welt und alle, die Ohren haben, die können es hören, und Asle blickt auf und er sieht sie da stehen, sie steht da, er sieht Alida da stehen (...) und sie hört es. Sie hört das Schweben und sie ist im Schweben."

Alle, die Ohren haben, können es hören, das große Schweben: 2015 wurde "Trilogie" mit dem Literaturpreis des Nordischen Rats, der wichtigsten Auszeichnung der skandinavischen Länder, prämiert – ein Zeichen dafür, dass sich an Jon Fosses Status als Daueranwärter auf den Literaturnobelpreis bald etwas ändern dürfte. Gut so! (Oliver Pfohlmann, Album, 17.12.2016)