In einem brasilianischem Dorf gibt es eine Geschichte von Mord und Vergewaltigung.

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Wir sind momentan in einem Ort in Brasilien, der hat den merkwürdigen Namen Baia da Traiçao, Bucht des Verrats. Laut brasilianischer Internetseiten kommt der Name daher, dass hier im Jahr 1501 Männer der indigenen Bevölkerung der Potiguara vier portugiesische Seefahrer in einen Hinterhalt gelockt und umgebracht haben.

Unser Pensionswirt (ein Italiener) erzählt uns die Geschichte so: Die Portugiesen hätten zuvor einige Frauen der Potiguara vergewaltigt und der Überfall sei die Vergeltung gewesen. Eine Quelle dafür hat er nicht, offenbar erzählt man sich es hier im Ort so.

Die Rache der Männer

Ich frage mich: Wie kommt die Vergewaltigung in die Geschichte und was soll sie da? Ein Motiv ist ja offensichtlich: Sie soll die Potiguara von dem Verdacht freisprechen, grundlos und bösartig vier Portugiesen umgebracht zu haben.

Interessant ist, dass diese Erklärung selbst auf einem genuin westlichen Narrativ aufbaut: Einheimische Männer rächen sich an fremden Männern für die Vergewaltigung "ihrer" Frauen. Nur dass im Vergleich zum Narrativ "Köln-Silvester" in dem Fall die Europäer die "Fremden" und die Indigenen die "Einheimischen" sind.

Man kann sich diese Geschichte auch ziemlich gut als Hollywoodfilm vorstellen: Feat. die edlen Wilden, die bösen fremden Eroberer, die hilflosen Frauen (heute gern mit einem Spritzer Emanzipiertheit ausgestattet).

Frauen als aktiv handelnde im Narrativ

Ich googelte dann noch etwas weiter und fand auf der portugiesischen Wikipedia die ursprüngliche Quelle für diese Erzählung, nämlich einen Brief von Americo Vespucio an den portugiesischen König. Der hatte die Bucht auf ihren heutigen Namen getauft (bei den Potiguara heißt sie Akaîutebiró, was "unfruchtbarer Cashewbaum" bedeutet). Vespucio also schrieb:

"Wir schickten vier von uns an Land, um mit indianischen Frauen, die uns von einem Hügel aus zuwinkten, zu verhandeln. Inmitten des Gesprächs wurden die Burschen mit Stockhieben von der Seite getötet, gebraten und verspeist."

Mal abgesehen vom Wahrheitsgehalt des Briefes fällt auf, dass hier zwar Frauen mitspielen, aber nicht in der Rolle von vergewaltigten Opfern, nicht als symbolische Leerstelle, die das Handeln von Männern motiviert. Sondern als aktiv Handelnde: Sie winken, sie verhandeln. Ob sie es auch waren, die die vier Portugiesen getötet haben, oder ob noch jemand anderes, Ungenanntes in der Geschichte mitspielt, lässt die Passivformulierung des Briefes offen.

Erklärungsversuche

Passiert sein könnte also Verschiedenes:

  • Haben die Frauen freundlich gewunken und böse andere (Männer?) dann von der Seite die Portugiesen getötet?
  • Oder haben die Frauen die Portugiesen absichtlich in einen Hinterhalt gelockt, damit andere sie töten können?
  • Oder haben die Frauen selber die Portugiesen getötet? (Was erklären würde, warum Vespucio diese merkwürdige Passivkonstruktion wählt, nach europäischen Maßstäben wäre das ja peinlich gewesen, von Frauen besiegt zu werden)
  • Und wenn: Hatten sie das von Anfang an vor oder hat sich im Lauf des Gesprächs erst ein Konflikt ergeben?

Keine Ahnung. Natürlich ist es auch möglich, dass die Portugiesen tatsächlich die Frauen vergewaltigt haben und deshalb getötet wurden und Vespucio diesen Teil der Geschichte in seinem Brief an dem portugiesischen König verschwiegen hat. Wer weiß? (Antje Schrupp, 23.12.2016)