Die Restrealität, die Massenmedien, Digitalisierung und Konsumwut übriggelassen haben, zeigt sie in ihren Kurzgeschichten im Säurebad von Selbsthilfegruppen, obsessiven Eltern, Immobilienspekulanten und selbstbezogenen Akademikern, die wie Berufsspieler in einer Scheinwelt leben: Kathrin Röggla.

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Kathrin Röggla, "Nachtsendung. Unheimliche Geschichten", € 22,70 / 288 Seiten. S. Fischer, Frankfurt 2016

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In seinem berühmten Aufsatz von 1919 definiert Freud das Unheimliche als das ehemals Vertraute, das fremd geworden ist. Es komme "zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wiederbelebt werden oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen".

Damals boomte die fantastische Literatur, die genau diese Wiederkehr des Verdrängten und Überwundenen in der radikalen Umbruchszeit rund um den Ersten Weltkrieg inszenierte: Gespenster, Vampire, wahnsinnige Machtmenschen und Femmes fatales, aber vor allem Weltuntergänge.

So gesehen ist es bemerkenswert und alarmierend zugleich, dass Kathrin Röggla eben eine Sammlung "unheimlicher Geschichten" unter dem Titel Nachtsendung vorgelegt hat. Quasi in Fortsetzung ihres Erzählbandes wir schlafen nicht (2004) präsentiert sich die Autorin einmal mehr als berufene Volkskundlerin des Turbokapitalismus und seiner Arbeitnehmer/innen.

Schonungslos skizziert sie eine Phänomenologie der scheiternden Selbstoptimierung des Menschen – jene Fata Morgana, mit der der Neoliberalismus Ausbeutung und Zerrüttung schmackhaft zu machen versucht.

Hier geht es freilich weniger um das Unheimliche im Sinne Freuds, das aus den Bohrkernen einer vergessenen Kindheit stammt, sondern um die Brüchigkeit von Lebenswelten, für die der Marxismus der 1970er-Jahre noch ungeniert das Wort "Entfremdung" verwendete.

Sex oder Nierenkolik

Die Restrealität, die Medien, Digitalisierung und Konsumwut übriggelassen haben, zeigt sich in Rögglas Kurzgeschichten im Säurebad von Selbsthilfegruppen, obsessiven Eltern, Immobilienspekulanten und selbstbezogenen Akademikern, die wie Berufsspieler in einer Scheinwelt leben. Menschen fliehen mental vor der Gedenkminute auf einer Konferenz, Politiker gehen in Alpbach spazieren.

Anlässlich eines Abitur-(nicht: Matura!-)Jubiläums entfalten sich nur noch Parallelwelten, und überhaupt nehmen bei Röggla Menschen immer wieder an Treffen teil, die mit ihnen nichts zu tun haben, ist doch ihr Sozialleben genauso gestört wie ihr Wirklichkeitsbezug: "Wie lange schon hatte er sich nicht entscheiden können, ob es sich um stinknormalen Sex oder um eine Nierenkolik handelte? Etwa zwei ganze Stunden? Arnold Blaschke wollte nicht glauben, dass es so weit mit ihm war, so dass er sich lieber laut fragte: Sollte man einen Krankenwagen holen?"

So sehr Sex nicht mehr als Flucht funktionieren will und das Umland von Köln karnevalsfreie Zone zu werden droht, sind auch Urlaub und Aussteigertum letztlich unmöglich geworden: Die Blase eines Alternativbiotops auf Lanzarote ist nach der Wirtschaftskrise für die meisten Hobbykeramiker unrentabel geworden.

Und die Schlüssigkeit des eigenen Lebens ist längst in einer allgemeinen Apokalyptik abhandengekommen, wie für den Radio-DJ in der Titelgeschichte: "Ja, vorbei waren sie, die Zeiten, in denen man flüssig über Karriereverläufe plaudern konnte, Sätze wie: ,Ihr seid wie Nokia: Ihr erfindet euch immer neu (...)' blieben ihm heute im Hals stecken. Stattdessen hatte er die Siebentagesadventisten in der Leitung und die Unheilsverkünder, die sich stets selbst korrigierten, im Studio."

Untote

Als logische Konsequenz heißt es dann auch in der Story Kein Kontakt mit Toten: "Er selbst musste der Splitter einer Explosion eines anderen Lebens sein, eines, das er nicht kannte und zu dem er keinen Zutritt hatte. Er selbst war ein Untoter." Gespenster wie anno dazumal sind also gar nicht mehr gefragt, denn die Menschen von heute sind ihnen nur zu ähnlich geworden und müssen sich eigentlich nur noch vor dem Diesseits fürchten – in dem zwischenzeitlich ein orangegesichtiger Mann zum mächtigsten Politiker des Planeten geworden ist.

Kathrin Röggla ist ein equal opportunity employer: Ihre unheimlichen Kurzviten sind gerecht auf Männer und Frauen, auf Österreich und seine Nachbarländer verteilt, und für die Darstellung der aus den Fugen geratenen deutschsprachigen Welt hat sie einen Erzählstil gefunden, der in bester österreichischer Tradition herrlich irritiert und die Unterscheidung zwischen Unheimlichem und "Ununheimlichem", wie sie es nennt, aufgibt.

Dort, wo es den Leser schauert, kann er sich nicht im Glauben zurücklehnen, dass es diesen Horror nicht gibt. Er wartet nebenan. (Clemens Ruthner, 31.12.2016)