Nachdem wir – Maria, meine Frau in spe, und ich sowie 126 weitere verängstigte Passagiere der S7-Maschine von Berlin nach Moskau – eine Dreiviertelstunde über der Zielstadt gekreist waren, ohne dass uns der Pilot oder eine der Flugbegleiterinnen einen Grund dafür genannt hätten, landeten wir zu unserer Erleichterung dann doch noch irgendwann, und das Abenteuer Russland konnte beginnen.

Ein paar Tage später erfuhren wir von Marias Tante Lera, dass diese Vorgehensweise in Russland nicht unüblich sei: Die Piloten seien dazu angewiesen, ihr Kerosin bis zuletzt aufzubrauchen, weshalb, wisse sie nicht. Somit hatte ich schon vor der Landung Bekanntschaft mit der ersten Eigenart dieses flächenmäßig betrachtet größten Landes der Erde gemacht. So eine Vorgehensweise wäre in Europa nicht denkbar, aus Gründen des Naturschutzes, der Passagierfreundlichkeit und, ich bin mir sicher, auch aufgrund dutzender Richtlinien, die irgendwann von irgendwem in Brüssel bestimmt worden waren.

Auf Familienbesuch

Den festen Boden wieder unter meinen beiden Füßen spürend, musste ich mich gleich von Maria trennen. Sie stolzierte, glücklich über die Vertrautheit der heimatlichen Umgebung, zu einem Schalter für Einheimische, während ich zu einem für ausländische Besucher zu gehen hatte. Schnell kamen mir erste sprachliche Hindernisse in die Quere. Zwar stand da auf Englisch, ich müsse "dorthin", doch vor diesem "Dorthin" war ein dickes Seil gespannt, und dahinter standen zwei grimmig dreinblickende Polizisten mit ihren riesigen russischen Polizistenhüten. Ich fragte auf Englisch, wo ich hinmüsse, sie schüttelten scheinbar in Zeitlupe, ernst und im Gleichtakt die Köpfe. Ich versuchte es mit Gesten und bekam ein nervöses Fuchteln in Richtung von Marias Ausgang als Antwort.

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Die Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz.
Foto: Reuters/Maxim Zmeyev/ File Photo

Die Passagiere nach In- und Ausländern zu sortieren, um sie so geordneter kontrollieren zu können, war anscheinend nur als unverbindlicher Vorschlag zu deuten, denn was da auf den Tafeln stand, schien niemand so richtig ernst zu nehmen. Tatsächlich quetschten sich alle Passagiere in einer kleinen Eingangshalle aneinander, und es war gleich, wen die Masse zu welchem der zehn Schalter ausspuckte. Maria sah ich längst nicht mehr, und so hoffte ich einfach nur, dass ich einen "Netten" erwischen würde, der Verständnis für meine mangelnden Russischkenntnisse zeigen und mein Visum akzeptieren würde.

Zu meiner Verwunderung begrüßte mich der Herr in seiner kugelsicheren Glasbox in fehlerfreiem Deutsch und lud mich aufs Höflichste ein, Spaß zu haben während meines Besuches der Mutter meiner Frau. Dies sagte er nicht ohne ein Schmunzeln auf den Lippen und ein verstecktes Zwinkern im Auge, denn die Antwort auf seine Frage, wieso ich hier sei – nämlich die Familie meiner Frau besuchen –, schien ihn zu amüsieren.

Moskau, die stolze Stadt

Gemächlich ging es weiter mit einem komfortablen Regionalzug in Richtung Moskauer Innenstadt. Etwa fünfundvierzig Minuten dauerte die Überfahrt. Sie kostete 500 Rubel (umgerechnet sieben Euro) und bot ein letztes Mal während dieser Reise ausreichend Ruhe, Platz und Zeit, um derart unwichtige Umrechnungen zu tätigen. Das von der Bahngesellschaft an jeder Innen-, Außenwand und Schiebetür des Zuges angepriesene Wi-Fi funktionierte natürlich nicht, aber wo auf der Welt tut es das schon in einem öffentlichen Verkehrsmittel? Also dösten wir ein bisschen, bevor uns die Lautstärke der Zwölf-Millionen-Metropole verschlingen sollte.

Die kaum wahrzunehmende Bremskraft des Zuges weckte uns auf, letzter Halt: Paveletsky. Nun erhielt ich meine ersten Eindrücke von Moskau – schön war's nicht gerade, im bezaubernden Sinne zumindest nicht, doch monumental, vom ersten Moment an spannend. Die Stadt zögerte nicht, präsentierte sich augenblicklich stolz, zeigte unverblümt, was sie hatte, obwohl dies in erster Linie eben nicht allzu besonders war, aber groß. Größe vermag ja bekanntlich zu beeindrucken.

84 Meter unter der Erde

Vom komfortablen oberirdischen Schnellzug ging es nicht enden wollende Rolltreppen hinab in den Moskauer Untergrund, 84 Meter unter die Erde. Zum Vergleich: In Berlin liegt die U-Bahn rund zwanzig Meter unter den Straßen, in Wien höchstens 37 Meter. Sogleich stürmten weitere Eindrücke auf mich ein. Wie man so häufig hört, sollen die U-Bahn-Stationen in Moskau wunderschön gestaltet sein, gar an Museen erinnern. Das stimmt, sie sind tatsächlich sehenswert, mit Bänken aus Marmor, Statuen, Mosaikarbeiten und ja: sogar einem Springbrunnen bestückt.

Komsomolskaja. eine der prunkvollen Moskauer U-Bahn-Stationen.
Foto: APA

Kein Wunder, dass 44 der 200 Stationen zum Weltkulturerbe gezählt werden. Doch eine ganz andere Eigenart faszinierte mich an dieser U-Bahn. Jeder Ein- und Ausgang einer jeden U-Bahn-Station war schwer bewacht, von Wachmännern, schimpfenden Ticketverkäuferinnen und hier und da auch von der Polizei, wie überhaupt die ganze Moskauer Innenstadt eine unglaubliche Dichte an Wachmännern, Polizisten und schimpfenden und strengen Frauen aufweist, weshalb ich mich vollkommen sicher in Moskau fühlte, zumindest vor Dieben, terroristischen Attacken und ähnlichem Ungemach, an das man als Tourist so denkt.

Unterschlupf in einer WG

Bei Oksana, einer ehemaligen Kommilitonin von Maria, fanden wir Unterschlupf. Oksana und ihre Mitbewohnerin Lena leben recht zentral, vielleicht 25 Gehminuten vom Roten Platz entfernt. Gemütlich haben es die beiden ambitionierten Mädchen in ihrer kleinen Zweier-WG. Beide Mitte zwanzig, vom Land und in der Großstadt, um etwas zu erreichen, denn nur zu diesem Zweck lebe man als junger Mensch in Moskau, meinte Lena. "Kontakte muss man suchen und finden, denn ohne Kontakte geht in dieser Stadt nichts. Dabei ist es nicht so wichtig, was man gelernt hat, sondern wen man kennt. Du kannst eine gelernte Friseuse sein, doch wenn du jemanden im Immobilienwesen kennst und er einen Job hat, der besser bezahlt ist, dann bist du schneller ein Makler, als du 'Dauerwelle' sagen kannst."

Die Lautstärke der Stadt, ihr mäßig schönes Antlitz und die Unfreundlichkeit ihrer Bewohner – welche mir erst im Laufe der kommenden paar Tage so richtig auffallen würde – störten die beiden Mädchen nicht. Sie versicherten uns: "Nach wenigen Tagen werdet ihr euch an den Lärm auf den Straßen und die 'eigene' Art der Menschen hier gewöhnen." Schade nur, dass wir kürzer als wenige Tage in Moskau waren. Ein anderes Mal sagte Oksana – denn wir sprachen häufig über die Lautstärke der Stadt –, dass junge Menschen in Moskau schlichtweg keine Zeit dafür hätten, sich Gedanken über den Krach zu machen, denn sie seien die meiste Zeit damit beschäftigt, zu arbeiten respektive darüber nachzudenken, wie sie das nötige Geld auftreiben können, um sich das Leben in dieser Stadt – der teuersten in Russland – leisten zu können.

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Eine Touristin posiert für ein Foto.
Foto: AP/Pavel Galovkin

Ins Getümmel

Unsere Sachen schmissen wir in das Eckchen, in dem wir schlafen würden, duschten schnell, aßen ein Stück "Hering unterm Mantel" – ein Hering-Apfel-Ei-Rote-Bete-Salat – und machten uns auf, das Nachtleben zu erkunden. Es war ein Mittwoch und auf den Straßen nichts los: eine weitere Sache, die sich der vom Berliner Nachtleben verwöhnte Ausgeher – in dem Fall ich – in der Protz-und-Prahl-Stadt Moskau anders vorgestellt hätte. Bei zwölf Millionen Einwohnern und dem ganzen Geld, welches die russische Nacht alltäglich verschlingt, rechnete ich mit mehr ausgehfreudigen Menschen, offenen Bars und Clubs, doch nix da, nur ein paar der exklusiven Shisha-Bars hatten geöffnet – denn die Moskauer lieben ihre Shishas. Wer Geld hat und sich zeigen möchte, geht in einen dieser Läden, wo ebenfalls gut getrunken und gegessen wird. Von unseren Gastgeberinnen erfuhr ich, dass sich das Ausgehen in Moskau auf den Freitag und den Samstag beschränkt, die restliche Woche brauchen die Menschen, um sich von dem immensen Kater dieser beiden Tage zu erholen – also wie in den meisten anderen Städten auch.

Die kommenden Tage machten mich müde, den armen und überforderten Europäer, welcher, rückblickend betrachtet, viel zu viel meckerte. "Die Straßen sind so laut, die Menschen so unfreundlich, alles grau, die Wege so lang." Normalerweise sehe ich mich nicht als einen Menschen, der schnell unzufrieden wird oder sich an einem hohen Lautstärkepegel oder ähnlichem Kleinkram stört. Doch in dieser Stadt fühlte ich mich nach zwei Tagen wie ein weinerliches Kleinkind. (Markus Szaszka, 20.1.2017)