Trotz all der kleinen Unannehmlichkeiten, die eine Zugfahrt durch die russische Einöde so mit sich bringt, bescherte mir das monotone Rattern der alten sowjetischen Eisenbahn den besten Schlaf meiner Reise. Es war acht Uhr morgens, zwei Stunden vor der geplanten Ankunft, als uns ein Tumult weckte.

Im Gespräch mit dem Schaffner

Wie aufgezogen begannen die Passagiere ihre Laken und das restliche Bettzeug zusammenzulegen, um es schnellstmöglich dem jungen, freundlichen Schaffner zu übergeben und eines der begehrten Heißgetränke zu ergattern. Wir taten es ihnen nach und kauften Kaffee für ein paar Rubel (10 Cent), den wir in wunderschön verzierten, schweren Glashaltern serviert bekamen. Während Maria und ich munter wurden, beobachteten wir den Schaffner bei all seinen Tätigkeiten.

Verglichen mit seinen europäischen Arbeitskollegen, kam da schon einiges zusammen: das Austeilen und Einsammeln des Bettzeugs, der Verkauf kleiner Snacks, das Kontrollieren von Fahrkarten und weitere Aufgaben, die während einer ganztägigen Zugreise anfielen. "Two coffee, please" bat ich, "Sure. Sugar? Milk?" kam als Antwort – und wir gerieten ins Quatschen. Schwer zu sagen, wer von uns beiden verwunderter war ob der ungewöhnlichen Anordnung dieser Transaktion, denn in diesem Zug war wohl schon seit Jahren kein Europäer mehr mitgefahren und der Schaffner die einzige Person außer Maria und mir, die Englisch sprechen konnte.

Die Moskauer Straße in Lipezk.
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Schweigen ist Gold

In Lipezk angekommen, wurden erst die Glieder in alle Himmelsrichtungen gestreckt, bevor es weiterging – in einem Schiguli (sowjetisches Auto) mit der Mutter meiner Frau in spe und ihrer Tante Richtung alter Kinderstube. Ich sammelte erste Eindrücke: graue Straßen, graue Häuser, graue Menschen – wie in meiner Heimatstadt Wien.

Zu Hause – es war gegen halb elf vormittags – wurde aufgetischt. Zunächst dachte ich, wir bekämen ein schönes großes Frühstück, doch meine Erwartungen wurden bei weitem übertroffen, denn während wir nichtsahnend duschten, zauberten die beiden Frauen ein mehrgängiges Willkommensessen mit Wein auf den Tisch, denn Marias Rückkehr musste würdig begangen werden. "Normal!", meinte Maria.

Vom Frühstück leicht angesäuselt, saß ich beim Esstisch und versuchte das für mich kryptische Russisch der Anwesenden (mittlerweile war auch Vlad hinzugekommen, der Freund von Marias Mutter) zu entziffern – ohne Erfolg. Ohnehin kein Freund der vielen Worte, stimmte ich mich auf ein paar stumme Tage ein, denn bis auf die Tante, die alle meine Sprachen sprach, verstand mich ab da keiner mehr ohne die übersetzerische Hilfe Marias; auch gut, so hatte ich mehr Zeit zum Beobachten.

Nach der kurzen Verschnaufpause ging es weiter, erst in ein Einkaufszentrum, ein paar Socken und eine Jogginghose kaufen – Vlad konnte nicht umhin, mir in der Umkleidekabine Gesellschaft zu leisten und wertvolle Tipps im Umgang mit Jogginghosen zu geben, wie ich vermute, denn ich verstand ohnehin nichts – dann zersplitterte die frisch aneinander gewöhnte Schiguli-Gruppe. Maria, ihre Mutter und ich hatten noch ein Mittagessen in Borino bei Oma und Opa geplant, eine eineinhalbstündige Busfahrt entfernt von Lipezk.

Oma Liubov und Opa German

Als wir aus dem dreißig Jahre alten, ehemaligen deutschen Autobus – der Unterwegs mehr als eine Schraube verloren hatte – ausgestiegen waren, brannte uns die Sonne auf der Haut und die Luft flimmerte über dem Asphalt. Die heißesten drei Tage des Jahres hatten begonnen. Der Spaziergang von der Haltestelle bis zum Haus von Oma Liubov (Russisch für Liebe) und Opa German führte durch das ganze Dorf. Menschen waren nicht zu sehen, nur Katzen – viele davon –, die ein schattiges Plätzchen zum Ausharren suchten.

Bei den Großeltern angekommen, warteten diese bereits mit einem selbstgebackenen Apfelkuchen auf uns im Garten. Alle küssten und begrüßten sich, und ich – ich blamierte mich. Maria hatte mir bereits in Berlin beigebracht, wie ich mich vorstellen sollte, wie es höflich wäre, doch aufgrund der Aufregung und der Hitze, die mir den Schweiß in die Augen trieb, vermischten sich die Wörter mit den Namen in meinem kochenden Hirn – kurzum, ich brachte nur Gestammel heraus.

Im sowjetischen Garten

Bewirtet wurden wir inmitten einer ländlichen Bilderbuchkulisse – ein Traum für jeden Großstadtmuffel. Das Haus, eine ehemalige Bruchbude, hatte der Opa in drei Jahrzehnten eigenhändig zu einem respektablen Eigenheim mit Keller und Dachboden ausgebaut. Der Opa ist einer dieser Menschen, die nicht anders können, als von früh morgens bis spät in den Abend hinein zu werken, etwas zu basteln oder eben Zimmer an ein Haus zu bauen. Ein arbeitsreicher, gleichwohl ein sehr milder, ruhiger Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Gemeinsam nutzen Opa und Oma ihren großen Garten bis zur letzten Ecke aus, bauen Beeren aller Art an, Melonen, Kräuter, Salat, Äpfel und vieles mehr.

Tomatenernte.
Foto: APA/AFP/FRED TANNEAU

In dieser Gegend, fernab jeglicher Hektik, wo die Nachrichten selten geschaut werden, nur die Natur sich ab und zu in Form eines Schauers oder eines Donners zu Wort meldet und die Nacht mucksmäuschenstill ist, ließen Maria und ich es uns gut gehen. Wir lagen in der Sonne, ließen uns braten, schwitzten, holten uns frisches Obst vom Garten, wurden bekocht und duschten mehrmals am Tag kühl unter einer Freiluftbrause im Garten. Die Tomaten schmeckten dank der nährstoffreichen Schwarzerde unter ihnen herrlich saftig – so wie ich sie selten gegessen habe und wie ich sie noch nie in heimischen Supermärkten entdecken konnte. Unförmig und nicht zur Gänze rot, ja, nun mal nichts für den Symmetrie liebenden deutschsprachigen Raum gemacht, doch erfrischend und riesig.

In Lipezk der Liebe wegen

Ab und an machten Maria und ich uns allein auf die Socken, erkundeten die Pampa mit den alten Rädern der Kinder der Familie, mit denen Maria bereits fünfzehn Jahre zuvor geradelt war. Viel zu klein waren sie, und wir stießen uns die Knie an den Lenkern – Bergauf fahren? Keine Chance – doch wir hatten einen Heidenspaß, einen von der Sorte, den wir nur aus unserer Kindheit kannten. Damals, als die Tage noch nicht verplant waren, sondern wir sie auf uns zukommen ließen, die Nachmittage sich streckten und wir vor lauter Langeweile nicht wussten, wie der Tag rumzukriegen war.

Vom Mittagessen pappsatt, radelten wir los, ohne Plan und mit lauter Flausen im Kopf, um irgendetwas Interessantes zu entdecken, um zu staunen über diese Welt, ihre Bewohner, die Menschen, Tiere und Pflanzen. Wir fuhren durch matschige Wälder – begegneten Kühen, Schafen und Gänsen – an Äckern und einem See vorbei, an dem zu sitzen erst ganz idyllisch war, bis ich hineinspringen wollte und gerade noch rechtzeitig von den Einheimischen gewarnt wurde. "Lieber nicht, Junge. Davon wirst du krank." Zu viel Schweinescheiße im malerischen See. Der Tag nahm seinen Lauf, und wir radelten weiter, über Wiesen und staubige Kieswege, schleckten Eis und tranken Wasser direkt aus einer Quelle – zu Hause würden wir ohnehin früh genug sein.

In Europa ist alles besser ...

Bei Kerzen und Wein, unter freiem Himmel, aßen wir zu Abend. Als stiller Beobachter freute ich mich, an so einem schönen Ort zu sein, wo die Menschen es sich gut gehen ließen, ganz in Ruhe. Dann machte Oma Liubov eine Bemerkung, die mich erstaunte. Es war ein Scherz: dass ich als ein Teil der Elite zurück nach Europa gehen und allen berichten würde, dass die kulturlosen Russen ihr Hühnchen mit den Händen essen. Ich, der gerade so über die Runden kommt, ein Teil der Elite? Ja – in Russland bezeichnet man jeden Europäer als einen Teil der Elite, denn es ist grundsätzlich besser in Europa zu leben als in Russland – so denken alle Russen, zumindest die, die ich getroffen habe, gleich ob in Moskau, Lipezk oder am Land. Oft hörte ich: "Sorry, dass dieses und jenes so und so ist, aber wir sind in Russland und nicht in Europa, wo dieses und jenes sicher besser ist." Oft waren es nur Vermutungen. (Markus Szaszka, 3.2.2017)