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Autor Daniel Kehlmann blickt beunruhigt auf die westlichen Demokratien: "Wir müssen das Problem der Verteilungsgerechtigkeit lösen."

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Wien – Eine Frau wird am Weihnachtsabend in einen Verhörraum geschleppt: Sie soll für Mitternacht einen terroristischen Anschlag geplant haben. Herbert Föttinger inszeniert Heilig Abend am Wiener Josefstadt-Theater (Premiere: 2. Februar), es spielen Maria Köstlinger und Bernhard Schir.

STANDARD: Es heißt, Sie hätten das Sinnbild der rasant heruntertickenden Uhr beim Western-Klassiker "High Noon" entliehen. Doch ist es nicht unsere von Terrorangst geplagte, zutiefst verunsicherte Gesellschaft, die auf dem Spiel steht und für die der Countdown läuft?

Kehlmann: High Noon ist ja tatsächlich ein in Echtzeit ablaufender Film: Es gibt darin keinen Zeitsprung, erzählte Zeit und Erzählzeit sind identisch. Das hat mich formal immer interessiert, so etwas wollte ich unbedingt auch machen. Es ging mir also wirklich zunächst um die reale Uhr, die tatsächliche Zeit auf der Bühne und im Zuschauerraum, nicht so sehr um die Uhr als Metapher. Zum metaphorischen Element kann ich nur sagen: Ich hoffe, dass der Countdown noch nicht läuft für die westlichen Demokratien, oder wenn er tatsächlich laufen sollte, dass er noch zum Stehen gebracht werden kann. Aber dafür müssen wir das Problem der Verteilungsgerechtigkeit lösen. Das ist ja fast zum Tabu geworden. Die Professorin in meinem Stück bringt es hartnäckig zur Sprache, der Polizist lacht sie dafür aus.

STANDARD: Trügt der Schein, oder häufen sich in Ihrem Werk Zeichen einer fatalen Sicht auf die Welt?

Kehlmann: Ich würde gerne widersprechen, aber ich fürchte, Sie haben recht. Meine Bücher sind in den letzten zehn Jahren düsterer geworden. Ich habe das nicht geplant, das ist einfach so geschehen. Was meine Meinungen angeht, war ich eigentlich immer schon pessimistisch. Etwas so Heiteres wie Die Vermessung der Welt würde ich heute wohl nicht mehr schreiben. Andererseits machen einem ja oft die pessimistischen Autoren auf seltsame Art gute Laune. Ich konnte noch nie Schopenhauer lesen, ohne mich nachher besser zu fühlen.

STANDARD: "Heilig Abend" ist Ihr drittes abendfüllendes Bühnenwerk. Haben Sie, nach Ihren überaus kritischen Einlassungen zum deutschsprachigen Theater, wieder Zutrauen gefasst zu den Bühnenkünsten?

Kehlmann: Ich hatte ja immer Vertrauen zu den Bühnenkünsten, ich finde nur nach wie vor, dass sie im deutschsprachigen Raum oft auf eine Art praktiziert werden, mit der ich nicht einverstanden bin. Und das, obwohl wir großartige Schauspieler haben! Aber ich liebe das Theater, das war ja auch der Grund meiner Einlassung damals. Und solange ich selbst das Privileg habe, dass sich gute Regisseure meiner Stücke annehmen, werde ich das Schreiben fürs Theater nicht aufgeben, auch wenn es mir Ärger einbringt.

STANDARD: Läuft Ihre Zusammenarbeit mit Christopher Hampton weiter? Und ist das angelsächsische Theater für Sie weiterhin das Maß aller Bühnendinge?

Kehlmann: Ich lebe zurzeit in New York, und ich sehe hier großartige neue Stücke, politisch relevante, auch formal avancierte Werke, etwa von Annie Baker oder Suzan-Lori Parks. Die meisten davon werden in Österreich und in Deutschland nie gezeigt. An sie denke ich, wenn ich von "angelsächsischem Theater" spreche. Und ja, in diesem Sinn ist das angelsächsische Theater weiterhin für mich persönlich Maß aller Dinge, ähnlich wie der nord- und südamerikanische Roman für mich der prägende Einfluss als Prosaautor ist. An Heilig Abend habe ich unter anderem in London gearbeitet, bei einem Workshop mit dem Regisseur Laurence Boswell. Und auch die Zusammenarbeit mit Christopher Hampton geht weiter: Christopher hat mein Stück Der Mentor übersetzt, es wird dieses Jahr in England mit F. Murray Abraham in der Hauptrolle aufgeführt. Ich wiederum habe gerade Christophers Bühnenversion des Films All About Eve übersetzt.

STANDARD: "Heilig Abend" erzählt vom Alarmzustand, der unsere westliche Welt in Atem hält. Sind wir genötigt, unsere liberalen Werte und Grundrechte auf dem Altar der Sicherheit zu opfern? Ihr Stück ist in diesem Punkt ambivalent.

Kehlmann: Ein Stück muss ja in so einer Frage ambivalent sein, vielleicht mehr als der Autor selbst. Wenn ein Polizist, ein Verhörer, in einem Stück auftritt, so muss er auch gute Argumente haben, und seine Haltung muss nachvollziehbar sein, sonst wäre es Propaganda. Was meine persönliche Meinung angeht: Ja, auch ich habe Angst vor Terroristen, und auch ich wäre instinktiv viel zu leicht bereit, Rechte aufzugeben. Aber die Wahrheit ist auch, dass der oberste Chef der NSA jetzt Donald Trump heißt. Edward Snowdens Argument, dass unsere privaten Informationen plötzlich in den Händen einer Regierung liegen könnten, die nicht mehr vertrauenswürdig oder auch nur gutwillig ist, ist auf einmal nicht mehr reine Theorie – genau das ist gerade passiert. In einem Moment wie diesem dürfen wir keine Rechte mehr im Tausch gegen Sicherheit aufgeben.

STANDARD: Sie halten sich mit politischen Äußerungen in der heimischen Öffentlichkeit auffallend bedeckt. Ist Zurückhaltung eine Tugend? Oder schrumpft Österreich aus New Yorker Perspektive zur Bedeutungslosigkeit zusammen?

Kehlmann: Als jemand, der in Jörg Haiders Österreich aufgewachsen ist, habe ich mich jedenfalls sehr gefreut, als Österreich sich plötzlich am 4. Dezember als das erste Land Europas erwiesen hat, in dem sich der Trend zu den Wahlgewinnen der Nationalpopulisten umgedreht hat. Ein ganz ungewohntes Gefühl: Man war im Ausland, und die Leute gratulierten einem zu Österreich. Grundsätzlich hat die Frage nach politischem Engagement in Österreich mich immer ein wenig ratlos gemacht. Was soll ich sagen, das nicht ohnehin schon vorher klar wäre? Dass ich gegen die FPÖ bin? Dass ich mir wünsche, Karl-Heinz Grasser sieht irgendwann noch eine Gefängniszelle von innen? All das versteht sich doch von selbst. Ich habe für die New York Times über Angela Merkels Flüchtlingspolitik und gerade für Die Zeit über Donald Trump geschrieben, weil ich das Gefühl hatte, dass ich zu diesen Themen tatsächlich etwas zu sagen hatte.

STANDARD: Wann darf man mit einem neuen Roman von Ihnen rechnen?

Kehlmann: Wenn alles gut geht, recht bald. Ich arbeite an einem umfangreichen Roman, mit wechselndem Glück, aber ich bin jetzt doch optimistisch, dass er fertig werden könnte. Aber mehr sage ich noch nicht. (Ronald Pohl, 24.1.2017)