Mano Bouzamour: "Ich habe den Muslimen, den Marokkanern eine Stimme gegeben innerhalb der weißen, europäischen Literatur."

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Mano Bouzamour bei der Präsentation seines Buches letzten Sommer vor Schülerinnen und Schülern.

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Mano Bouzamour ist ein wenig außer Atem, gerade ist er zurückgekommen von einer Lesung in einer Amsterdamer Schule. Er kommt jetzt wieder öfters in Schulen – für Lesungen und Vorträge. Denn sein erstes Buch ist bereits im offiziellen Lehrplan gelandet. Das heißt: Holländische Jugendliche lesen Samir, genannt Sam jetzt im Unterricht. Das macht ihn glücklich. Und auch die Tatsache, dass sein Bestseller bald verfilmt wird – und damit noch ein breiteres Publikum seine eigene Geschichte kennenlernt.

STANDARD: Wann wird der Film in die Kinos kommen?

Bouzamour: Ich schreibe gerade erst mit einem Drehbuchschreiber das Skript. Das wird also noch ein bisschen dauern. Der fertige Film wird wahrscheinlich erst in zwei Jahren in die Kinos kommen. Mein Traum hat sich wirklich erfüllt: Ich wollte unbedingt einen Roman schreiben, und jetzt wird daraus sogar ein Filmstoff. Als Jugendlicher habe ich nie Bücher gelesen, sondern immer nur Filme angeschaut. Meine marokkanischen Eltern können weder lesen noch schreiben. Meine Brüder haben mit dem Geld, das sie beim Zeitungenaustragen verdient haben, oft DVDs gekauft: Actionfilme, Kriegsfilme, Dramen. Durch diese Filme habe ich erst ein Gefühl für Storytelling bekommen und das Bedürfnis, selbst Geschichten zu erzählen.

Als ich dann tatsächlich mit all diesen reichen, weißen Kindern auf ein Gymnasium aufgenommen wurde, haben mich Freunde mit in die Ferien genommen. Da habe ich zum ersten Mal erlebt, dass Menschen lesen, dass sie Bücher mit in den Urlaub nehmen, um sie am Strand zu lesen. Alle haben gelesen, und ich war gelangweilt, also habe ich auch zu lesen begonnen.

STANDARD: Wenn Ihre Eltern nicht lesen und schreiben konnten, wer war letztendlich dafür verantwortlich, dass Sie in Amsterdam auf einer Eliteschule gelandet sind?

Bouzamour: Mein Bruder hatte viele Freundinnen, eine davon war auf diesem Gymnasium. Und sie sagte zu mir: Versuch es doch einfach! Diese Schule war für mich eine ganz andere Welt, in der ich zuvor nicht zuhause war. Diese neue Welt war nur ein paar Häuserblocks von meinem alten Zuhause, dem Migrantenviertel De Pijp, entfernt. Wäre ich nicht auf diese Schule gegangen, hätte wahrscheinlich dieses Buch nie geschrieben.

STANDARD: Es besteht also kein Zweifel, dass Bildung Ihr Weg zur Integration in die holländische Gesellschaft. War das ein harter Weg?

Bouzamour: Das erste Jahr war hart. Diese Kinder kannten sich alle, und ich kam aus einem ganz anderen Milieu. Alle Eltern kannten sich untereinander. Ich war ein Außenseiter. Ich hatte keine Designerklamotten und nicht das neueste iPhone. Ich hatte keine reichen Eltern, dafür aber eine große Klappe, um das alles zu kompensieren. Ich schloss Freundschaften und hatte bald eine Freundin und konnte plötzlich mitspielen. Die folgenden Jahre waren dann toll.

STANDARD: Blieben Sie an dieser Schule das einzige Kind mit Migrationshintergrund?

Bouzamour: Zu meiner Zeit war ich der Einzige. Das hat sich mittlerweile verändert, heute gibt es ein paar mehr Kids mit dunkler Haut.

STANDARD: In Ihrem Buch geht es auch um Ihre Eltern, deren Integration in die holländische Gesellschaft bis heute nicht gelungen ist? Warum ist das so?

Bouzamour: Die ganzen Immigranten, die in den 60er- und 70er-Jahren kamen, Leute wie meine Eltern und deren Freunde, die blieben komplett unter sich. Es ist sehr seltsam, auch für mich, dass sie sich nicht integriert haben in diese andere Kultur. Ich habe meinen Vater oft gefragt, warum sie nicht einmal die Sprache gelernt haben. Er antwortet dann halbherzig, dass das für seine Arbeit nicht notwendig war. Sie wollten irgendwann zurück, sind aber geblieben. Die Regierung damals hat auch nichts unternommen, um für bessere Integration, zum Beispiel durch Sprachkurse, zu sorgen. Spracherwerb ist das Wichtigste. Sprache ist Kommunikation und ohne Kommunikation funktioniert gar nichts. Diese Menschen hatten auch große Angst vor der westlichen Gesellschaft, in deren Mitte sie gelebt haben. Zu mir sagten sie ständig: Bleib zuhause, geh nicht raus, diese Leute ziehen dich in allerlei bösen Sachen, sie trinken, nehmen Drogen etc.

STANDARD: Das ist bis heute so?

Bouzamour: Meine Eltern gehören zu dieser alten Generation. Die werden sich nicht mehr ändern, dafür ist es zu spät. Die werden, um es hart auszudrücken, so sterben. Die nächste, sprich meine, Generation hat dafür eine umso größere Verantwortung. Manche von uns sind jetzt auch Schriftsteller, Schauspieler oder Musiker, und wir müssen dafür sorgen, dass das alles in Zukunft besser läuft.

STANDARD: Haben Ihre Eltern ein schlechtes Gewissen, dass Sie in einer westlichen Gesellschaft aufgewachsen sind? Hätten sie gerne, dass Sie ein braves, marokkanisches Mädchen heiraten?

Bouzamour: Es ist kompliziert. Meinen Vater nehme ich jetzt manchmal zu meinen Lesungen mit. Er sieht dort die vielen Leute, die alle kommen, um mich zu hören. Aber er versteht kein Wort von dem, was gelesen oder gesprochen wird. Er ist vielleicht sogar stolz, aber es gibt da keinen Raum mehr für Entwicklungen. Alles, was sie über mich und meine Arbeit wissen, erzählen ihnen andere Menschen. In ihrer strengen Community beobachten sich und behindern sich alle gegenseitig. Und ich denke mir: Sie sind hierher gekommen. Was bitte haben sie sich erwartet?

STANDARD: Ihr Buch hat in der marokkanischen Community dementsprechend für Wirbel gesorgt?

Bouzamour: Ja, hat es. Ich habe versucht, es meinen Eltern zu erklären, aber sie wollten es nicht verstehen. Noch einmal: Meine Eltern lesen nicht. Sie kennen die magische Welt der Literatur nicht. Sie kennen nur ein Buch, und das ist der Koran. Er ist die einzige Wahrheit. Sie haben nur von anderen gehört, was da alles in meinem Buch drinsteht, und sie glauben anderen Menschen mehr als ihrem eigenen Sohn. Es gab jede Menge Leute in dieser marokkanischen Community, die sehr sauer auf mich waren. Aber ich glaube, sie waren auch sauer auf sich selbst. Diese gesamte muslimische Community in Holland, Deutschland, Österreich, in ganz Europa muss endlich aufwachen und erwachsen werden. Wenn wir keinen Humor verstehen, keine Witze, wohin soll das führen?

Meine Eltern haben mich nach der Publikation des Buchs rausgeschmissen, mittlerweile tut es ihnen leid. Aber sie wollen wirklich nicht, dass ich weiterschreibe. Ich war der Jüngste der Familie. Meine Meinung hat nie gezählt. "Sei still, streng dich an und mach deine Arbeit." Deswegen wurde ich auch Kolumnist einer Zeitung. Ich wollte, dass meine Stimme gehört wird. Ich habe so viele zornige E-Mails und Hasspostings von marokkanischen Leuten bekommen, besonders von den ganz Jungen. Viele Muslime sehen mich als Verräter. Für sie gehöre ich jetzt zur holländischen Seite. Aber was habe ich gemacht? Ich habe den Muslimen, den Marokkanern eine Stimme gegeben innerhalb der weißen, europäischen Literatur. Ich habe ihnen eigentlich einen Gefallen getan. Aber das sehen sie anders.

STANDARD: Muslime in europäischen Gesellschaften sind derzeit und schon seit ein paar Jahren ein großes Thema, genauso wie Terrorismus oder Fundamentalismus. Sie erzählen im Buch auch über die marokkanische Gesellschaft in Amsterdam, lassen aber Themen wie islamischer Fundamentalismus oder den IS komplett draußen. War das bewusst?

Bouzamour: Ich bin tatsächlich nie in Kontakt mit fundamentalistischen Gruppen gekommen. Und als ich diesen Roman vor fünf Jahren zu schreiben begonnen habe, habe ich über meine Zeit an der Schule, die noch weiter zurückliegt, geschrieben. Damals gab es noch keine Jugendlichen, die nach Syrien zum IS gingen. Das alles hat erst vor wenigen Jahren begonnen. Ich kenne nur einen, der da angeblich hin ist, keine Ahnung, ob der je wieder zurück ist. Ich habe wirklich überhaupt kein Interesse an diesen Gruppierungen. Es verwundert mich nur zutiefst, weil man ja davon ausgehen könnte, dass diese nächste Generation sich anders, nämlich positiv, entwickelt. Aber nein, es gibt da anscheinend eine kleine Gruppe, die noch religiöser, noch fundamentalistischer ist als ihre Eltern.

Aber ich glaube wieder, dass das die Schuld der Eltern ist. Sie haben uns keinerlei Werkzeug mitgegeben, um in dieser Gesellschaft zu überleben. Sie haben keine Netzwerke, keine Unterstützung, nichts. Und diese Jugendlichen landen zwischen allen Stühlen und wissen nicht mehr weiter. Die Kinder an meiner Eliteschule hatten immer alle Möglichkeiten, hatten Eltern, die ihnen diese Möglichkeiten gaben. Mein Vater sagte nur: "Lerne und schau, dass du eine dicke Brieftasche bekommst, damit du es einmal besser hast." Das ist aber schon alles, was er für mich tun konnte. Sie wussten nichts über meine Schule. Ich blieb zum Beispiel einmal sitzen, meine Eltern haben das nicht einmal mitbekommen.

STANDARD: Ihr Buch ist stellenweise nicht ganz politisch korrekt, da gibt es mitunter auch Gewalt oder einige stereotype, machoide Beschreibungen junger Frauen.

Bouzamour: Ja, sicher. Aber Literatur darf und soll Geschichten erzählen, und die müssen griffig und nicht politisch korrekt sein. Mein Buch sollte nicht nur nett sein, das ist mitunter auch eine harte Geschichte, so aufzuwachsen. Wenn ich meine Geschichte nicht so aufgeschrieben hätte, wäre ich nicht authentisch. Aber in meinem nächsten Roman werde ich versuchen, sogar noch authentischer zu sein.

STANDARD: Auf der Buch Wien, bei der Sie zu Gast waren, haben Sie ihrem mitunter auch jungem Publikum den Rat gegeben: "Schreibt über das, was euch unangenehm ist, über das ihr eigentlich nicht schreiben wollt."

Bouzamour: Ich hatte diese Lesung heute, und der Lehrer sagte dasselbe wie Sie. Offensichtlich ist da etwas dran. Mach das Unerwartete, schreib über das Unerwartete!

STANDARD: Wovon wird das nächste Buch handeln?

Bouzamour: Das wird ein großes Ding, das mir auch ein bisschen Angst macht. Wenn ich schreibe, bin ich glücklich. Das ist es, was ich in meinem Leben machen will. Mein erstes Buch hat jede Menge Aufmerksamkeit bekommen. Es hat mich hierher gebracht. Im Moment experimentiere ich mit vielen verschiedenen Themen. Mehr kann ich im Moment noch nicht darüber sagen. (Mia Eidlhuber, 29.1.2017)