Schattendorf ist nicht nur jenes unscheinbare Straßendorf, das es natürlich auch ist. Vor allem ist Schattendorf eine Chiffre. Denn hier, direkt an der Grenze, wo Ende Jänner häufig der ungarische Wind weht zum Gotterbarmen, verdichtete sich im Jahr 1927 das Geschick der ersten österreichischen Republik zum endgültigen Unglück.

Am Nachmittag des 30. Jänner dieses Jahres 1927, vor 90 Jahren also, starben hier, mitten auf der Hauptstraße, der siebenjährige Josef Grössing und der aus dem Krieg einäugig nach Klingenbach/Klimpuh heimgekehrte Matthias Csmarits. Im Kugelhagel perfid heckenschießender Frontkämpfer, wie es schon tags darauf in den sozialdemokratischen Märtyrerlegenden hieß. Nein, widersprachen vehement die anderen. Der Josef Pinter und seine Schwäger, die Brüder Tscharmann – Josef und der 21-jährige Hieronymos -, schossen mit ihren Schrotflinten notwehrend in einen Stoßtrupp angreifender Schutzbündler.

Die Grundzüge dieser gegenläufigen, letztlich die Republik in die Luft sprengenden Erzählansätze wurden wohl schon am Abend dieses Sonntags festgeschrieben. "Von Frontkämpfern ermordet!", titelte die Arbeiterzeitung am Montag, den 31. "Schutzbündlerüberfall auf Frontkämpfer" die quasi halbamtliche Reichspost.

Von da an war die Sache im Grunde gelaufen. Alle steuerten, einander bedenkenlos aufhussend, Richtung 14. Juli, als "die Mörder" freigesprochen wurden. Schreiendes Unrecht für die einen. "Die Arbeitermörder freigesprochen", so die Arbeiterzeitung am 15. Juli.

Elias Canetti, der spätere Nobelpreisträger, erinnert sich an die Reichspost, die ihn so empörte, dass er sich auf sein Fahrrad schwang und von Ober Sankt Veit im heutigen 13. Bezirk bis in die Wiener Innenstadt radelte. "Da stand als riesige Überschrift: ,Ein gerechtes Urteil'." In Wirklichkeit stand da "Ein klares Urteil".

Canetti zog, sich den Marschsäulen empörter Arbeiter anschließend, Richtung Justizpalast. Der wurde angezündet. Die Demonstranten hinderten, den verzweifelt gestikulierenden Bürgermeister Karl Seitz nicht einmal ignorierend, die Feuerwehr am Löschen. Die Polizei erhielt Schießerlaubnis und ritt Kavallerieattacken.

Masse und Macht

89 Menschen starben an diesem Tag. Elias Canetti wurde, erzählt er im Memoirenband Fackel im Ohr, ohne jeden Widerstand "zu einem Teil der Masse" und die zu seinem Lebensthema. Karl Kraus, wortgewaltiger Herausgeber jener Fackel, die Canetti im Ohr hatte, ließ in ganz Wien affichieren: "Ich fordere Sie auf abzutreten." Der damit gemeinte Polizeichef Johann Schober, früherer und späterer Bundeskanzler, tat das nicht. Die Republik war am Ende, sechs Jahre, bevor sie dann auch formal zugrunde ging.

Von Schattendorf war da aber eben nur noch als Chiffre die Rede. Nicht einmal als Fanal. Denn das war ja der brennende Justizpalast, und Tote gab es anderswo – vorher und nachher sowieso – auch. Schattendorf blieb weiterhin jenes kleine, heute knapp 2500 Einwohner zählende Dorf, durch das zuweilen der beißende ungarische Wind pfeift, herauf von Sopron/Ödenburg, dessen natürlicher Vorort eigentlich Somfalva wäre, hätte sich das 20. Jahrhundert so entfaltet, wie es an seinem Beginn ja versprochen hatte.

Aber die Geschichte ist, wenn man es denn so sagen möchte, drübergefahren über dieses kleine Dorf wie der ungarische Wind Jänner für Jänner. Wer immer wo immer einer Schattendorferin oder einem Schattendorfer über den Weg läuft, wird fragen, ob er oder sie denn aus diesem Schattendorf komme. So was kann auch heute noch durchaus nerven.

Josef Ostermayer etwa, Kulturminister einst und Mastermind von Bundeskanzler Werner Faymann, wurde und wird weiterhin stets angesprochen darauf. Ostermayer ist – er hat das immer wieder ja auch als Teil seiner sozialdemokratischen Sozialisation erzählt – der Großneffe des Josef Grössing. Seine Großmutter war dessen Schwester. Gleichwohl "war das in meiner Kindheit nie so ein großes Thema". Das änderte sich, als er aufs Gymnasium nach Mattersburg kam. "Ich hatte da einen hervorragenden Professor für Deutsch und Geschichte, da erst ist mir klar geworden, welchen historischen Stellenwert das eigentlich hat."

Historische Schüsse

Fast wortgleich erzählt das Josefa Trimmel-Tscharmann. Erst in Wiener Neustadt, wo sie die Modeschule besuchte, sei ihr bewusst geworden, welche Bedeutung die mittlerweile als "Schüsse von Schattendorf" historisch gewordenen Schüsse von Schattendorf gehabt haben. Einer der Schützen, Hieronymus Tscharmann, war der Vater der mittlerweile Achtzigjährigen.

Bis zu seinem Tod im Jahr 1994 kämpfte die Tochter für eine gerechte Historiografie über ihren Vater. Und eigentlich tut sie das – ganze Stöße von Zeitungsausschnitten, kopierten Buchseiten und Briefwechsel haben sich angesammelt im Lauf der Zeit – bis heute. "Immer wenn das Jubiläum kommt, wird das ein Thema."

Ein Thema, das sie selbst – oder gerade – in den Details nicht loslässt. Mit Verve redet sie an gegen die gewissermaßen ins Schulbuch gesickerte Geschichtsschreibung der Ereignisse. Dem Hinweis, dass die doch bei weitem überlagert werden durch die daran sich im Wortsinn entzündende Julirevolte, kann sie auch 90 Jahre danach nichts abgewinnen. "Man sagt ja, dass erst 100 Jahre später eine objektive Geschichtsschreibung möglich ist."

Oder zumindest eine plausible. Dass das Ganze – wenn schon nicht ausschließlich, so doch auch – eine b'soffene G'schicht gewesen sei. "Am Samstag, dem 29., war Arbeiterball im Gasthaus Moser, wo sich am Tag darauf die Schutzbündler aus der Umgebung getroffen haben. Mein Vater ist auch dort gewesen." Am Sonntag habe er bis Mittag geschlafen, sei erst dann geholt worden ins rund 100 Meter vom roten Lokal entfernte elterliche Gasthaus, das Versammlungslokal der Frontkämpfer war. Umgekehrt waren natürlich auch die im Gasthaus Moser sich versammelnden Schutzbündler ein wenig übernachtig. Was nicht zu vergessen wäre, so Josefa Trimmel-Tscharmann, die damit den Erfahrungsschatz eines Schattendorfer Frauenlebens auf einen männerbezüglichen Punkt bringt: "Damals hat man ja nur Viertel getrunken."

Der Schattendorfer Schauplatz, aufbereitet für den Prozess. Geschossen wurde aus dem Haus. Der kriegsversehrte Matthias Csmarits suchte Deckung hinterm Baum, der kleine Josef Grössing stand zufällig im Streukegel der Schrotladung.
Foto: Burgenländisches Landesarchiv

Nicht nur die Schattendorfer, auch die herbeigerufenen kroatischen Nachbarn aus Pajngrt/ Baumgarten, Rasporak/Drassburg, Cindrof/Siegendorf und Klimpuh/Klingenbach, von wo eben auch der stellvertretende Zugskommandant des örtlichen Schutzbundes angereist ist, der Matthias Csmarits.

"Zwei Viertel, und schon war man bereit." Mehr als 100 Schutzbündler marschierten vom Gasthaus Moser, vorbei am Gasthaus Tscharmann – ein Schutzbundtrupp stürmte in die Gaststube, es kam zu einer Rauferei – zum drei Kilometer entfernten Bahnhof. Den aus Wien und Mattersburg anreisenden Frontkämpfern sollte ein heißer Empfang bereitet werden. Und wurde auch.

Wut aus Angst

Die Frontkämpfer, eine faschistische Vereinigung mit monarchistisch-legitimistischem Beigeschmack, zogen ab. Deren angemeldete und genehmigte Versammlung war damit verhindert. Die ins Dorf vorauseilende Fama sprach von Schießerei, ja, einem Toten. Beim Rückmarsch – Schaulustige, darunter eine Menge Kinder, begleiteten die Kolonne – kam man wieder am Gasthaus Tscharmann vorbei.

Fäuste gingen hoch, Schmähungen wurden skandiert, Steine flogen, das Hoftor wurde aufgebrochen. Schüsse fielen. Man könne, schreibt Heimito Doderer in seinem 1956 erschienenen Roman Die Dämonen, diese Schüsse "als Zeichen von Panik, der Wut infolge von Angst, aber, wenn man will, auch als glatten Mord ansehen".

Am Ort des tragischen Geschehens weist nichts auf dieses hin. Das Gasthaus Tscharmann beherbergt heute eine Gärtnerei. Das Gasthaus Moser nutzt der Künstler Tone Fink als Lager, aber auch als gelegentlichen Ausstellungsraum.

Johann Lotter, der Bürgermeister der roten Hochburg – im Gemeinderat sitzen 18 SPÖler, vier Schwarze und ein Blauer -, plant einen Gedenkstein. Andererseits will er den im Konsens mit Josefa Trimmel-Tscharmann aufstellen. "Die Josefa" saß nicht nur von 1992 bis 2012 für die ÖVP im Gemeinderat, sie sei auch eine gute Freundin.

Eine, die hoch aktiv ist im Dorfleben, eine Galerie betreibt, im Kulturverein tätig ist, selber malt. Sie hätte, sagt sie, eh nichts gegen einen Gedenkstein. Über den Text müsse man reden. Das aber ginge dann wohl ans rote Eingemachte des Bürgermeisters.

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Der Freispruch der Schützen führte zu Julirevolte und Brand des Justizpalastes. 89 Menschen starben.
Foto: Scherl / SZ-Photo / picturedesk.

Immerhin wurde in der alten Mühle, die als Kultur- und Kommunikationszentrum genützt wird, eine Dauerausstellung über 1927 eingerichtet. Fotos, Planskizzen, Plakate zeichnen die Ereignisse nach und ordnen sie ein ins Zeitgeschehen. So was sei höchst notwendig geworden. Viele Menschen besuchten Schattendorf wegen der Ereignisse 1927, erzählt der Bürgermeister. Im Rahmen sozialdemokratischer Sightseeing-Tours zu den pannonischen Gedenkorten macht das burgenländische Renner-Institut hier Halt, Schulklassen kommen. "Das ist Geschichtstourismus. Als Bürgermeister muss ich auf das schauen, für eine Gemeinde wie Schattendorf ist so was auch ein wirtschaftlicher Faktor."

Auch Josef Ostermayer wird immer wieder darauf angesprochen, warum es denn nichts gebe, das den Schauplatz der tragischen Ereignisse, welche die Republik ausgehebelt haben, für Besucher markiere. "Ich fände das richtig und wichtig", sagt er. Karl Prantl, der 2010 verstorbene pannonische Bildhauer, habe ihn darauf angesprochen. Der Witwe des Komponisten Otto M. Zykan habe er von Schattendorf erzählt, dies habe dann sogar seinen Niederschlag im neuen Libretto der voriges Jahr in Bregenz wieder aufgeführten Staatsoperette gefunden.

Eine Prozesswiederholung

Vor fünf Jahren wurde der Schattendorfer Prozess im Wiener Straflandesgericht anhand der alten Akten nachgestellt. Viele Schattendorfer waren Zuschauer. Auch Josefa Trimmel-Tscharmann, Josef Ostermayer, Johann Lotter. Der Initiator, Gerichtspräsident Friedrich Forsthuber, sah das "Fehlurteil", das zu einem Wendepunkt der österreichischen Geschichte wurde, mit der Gelassenheit des historischen Abstands. Das Urteil sei nachvollziehbar.

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Viele tausend Sozialdemokraten gaben in Schattendorf dem siebenjährigen Josef Grössing das letzte Geleit. Schutzbündler aus ganz Österreich waren eigens dafür angereist. Ihre Sonderzüge zierten unmissverständliche Urteile und unheilkündende Absichtserklärungen.
Foto: Anonym / Imagno / picturedesk.co

Josefa Trimmel-Tscharmann erzählt von einem Gespräch, das sie vor Jahren mit einem bekannten Richter geführt habe. Der meinte, wäre es kein Geschworenenprozess gewesen, wären die drei wegen Notwehrüberschreitung verurteilt worden. Kein Freispruch, keine Demonstrationen, keine Julirevolte: verschüttete Milch.

Unmittelbare Geschichte

Josef Ostermayer, ein Jurist, war nicht nur aus juristischen Gründen angetan von der Prozesswiederholung. "Vor Prozessbeginn hat mir der Schusssachverständige eine Waffe gezeigt und gesagt: Damit wurde Ihr Großonkel erschossen." Da sei die Geschichte, über die selbst die Oma nur ein einziges Mal gesprochen habe, sehr, sehr unmittelbar geworden.

Am Montag, exakt 90 Jahre nach den Ereignissen von Schattendorf, von denen Fred Sinowatz in einem Brief an Josefa Trimmel-Tscharmann überzeugt war, "dass die handelnden Personen die politischen Hintergründe gar nicht einschätzen konnten", rückt das kleine Dorf im Weichbild von Sopron wieder kurz ins Zentrum: Die SPÖ gedenkt an den Gräbern der Erschossenen. Am Abend diskutiert ein hochkarätiges Podium in Mattersburg die Ereignisse. (Wolfgang Weisgram, 30.1.2017)