15.12.2004, EM in Debrecen: Natascha Rusnachenko stellt sich Grit Jurack entgegen, doch Österreich verliert gegen Deutschland mit 23:29.

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Rusnachenko (47) Anfang 2017 im Internat in der Südstadt.

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Maria Enzersdorf – Wikipedia ist oft ein Wahnsinn. Laut Wikipedia war Natascha Rusnachenko zweimal Weltmeisterin im Handball. Wahr ist: Sie war Junioren-Weltmeisterin, 1987 und 1989. Laut Wikipedia hat Natascha Rusnachenko siebenmal die Champions League gewonnen. Wahr sind fünf Champions-League-Erfolge. Laut Wikipedia musste die junge Natascha, eigentlich Ersatz, bei einem U16-Turnier in Moskau für die verletzte Torhüterin einspringen, da habe sie überragend gespielt und Scouts auf sich aufmerksam gemacht. "Das ist Blödsinn", sagt Natascha Rusnachenko.

Vielleicht schadet es nicht, hier und jetzt zu beginnen. Jetzt sitzt die 47-jährige Natascha Rusnachenko an einem Küchentisch im dritten Stock des Internats im Leistungssportzentrum (ÖLSZ) in der Südstadt. Der dritte Stock hat neben der Küche noch einen Aufenthaltsraum, zwei Büroräume und 18 Zimmer für je zwei junge Leistungssportlerinnen zu bieten, die in der Südstadt in die Schule gehen und trainieren. "Der dritte Stock ist mein zweites Zuhause", sagt Rusnachenko.

Bindeglied im Internat

Seit 2008 wirkt sie als Betreuerin im Internat, der Begriff Erzieherin hat weitgehend ausgedient. Sie hilft den jungen Sportlerinnen, wo sie kann, sieht sich als "Bindeglied" zwischen Schule und Training. Neben den üblichen Tagdiensten fallen in jedem Monat auch sieben Nachtdienste an. Im Internat sind Talente aus etlichen Sportarten untergebracht, Rusnachenko nimmt sich speziell der jungen Handballer und Handballerinnen an, arbeitet eng mit den beiden ÖLSZ-Trainern Simona Spiridon und Vitas Ziura zusammen.

Vor fast dreißig Jahren ist Rusnachenko zum ersten Mal in die Südstadt gekommen. Da spielte sie für Spartak Kiew, den in den 70ern und 80ern erfolgreichsten Klub im Damen-Handball. Mit Spartak hat Rusnachenko zweimal die Champions League gewonnen, 1986 und 1988 (gegen Hypo Südstadt). Mit Spartak hat Rusnachenko dann auch das Finale 1989 verloren, "Es waren legendäre Spiele", sagt sie, Spiele, die den ersten Titel für Hypo brachten, das im nächsten Jahrzehnt dominieren sollte.

Diese kleine Wende hatte auch mit der globalen zu tun, die Sowjetunion fiel auseinander, und Spartak Kiew stürzte vom Handball-Thron. Igor Turchin, der legendäre ukrainische Coach, hatte Spartak zu 13 Champions-League-Siegen geführt und mit den sowjetischen Damen je zwei Olympia- und WM-Titel gewonnen. Nun kehrte er seiner Heimat den Rücken. Der norwegische Verein Fjellhammer wollte Turchin unbedingt unter Vertrag nehmen. Turchin stellte zwei Bedingungen. Erstens wollte er eine Torfrau mitbringen – erraten, ihr Name war Natascha Rusnachenko. Und zweitens wollte er, nachdem er schon mehrere Herzattacken erlitten hatte, in Norwegen operiert werden.

Entdecker Turchin

Beide Bedingungen wurden erfüllt, Trainer und Torfrau übersiedelten. "Aber Turchin hätte besser überhaupt aufhören sollen", sagt Rusnachenko. "Sein Herz hat den Stress leider nicht mehr verkraftet." 1993, während eines Europacupspiels in Rumänien, streikte das Herz erneut, diesmal endgültig. Turchin war Rusnachenkos Entdecker gewesen. Sie stammte aus Tiraspol, der zweitgrößten Stadt der Republik Moldau. Ihre Mutter Raissa war Bäckerin, Vater Ivan war Fabriksarbeiter. "Es war schwer, alle satt zu bekommen." Natascha hatte zwei Brüder und drei Schwestern und bald das Ziel, Tiraspol hinter sich zu lassen. Handball bot die Möglichkeit dazu.

Bei einer Spartakiade in Kiew hütete sie gegen Weißrussland das moldauische Tor. Turchin war eigentlich gekommen, um weißrussische Spielerinnen zu beobachten. Doch die Weißrussinnen zerbrachen an Rusnachenko, die hernach von Turchin nach Kiew geholt wurde. "Das Leben in Kiew war besser als das Leben in Tiraspol, da hab ich zugesagt."

Der Super-GAU

26. April 1986. Tschernobyl, der Super-GAU, nur hundert Kilometer von Kiew entfernt. Über Gefahr und Folgen wurde die Bevölkerung im Unklaren gelassen. "Wir Schulkinder mussten am 1. Mai am Aufmarsch teilnehmen, meine ganze Klasse ist mitmarschiert", sagt Rusnachenko. "Aber am 2. Mai hat uns Turchin in einen Bus verfrachtet, wir sind zum Trainingslager auf die Krim gefahren. Dort waren wir dann zehn Wochen lang."

Turchin war Rusnachenkos erster Förderer, der zweite hieß Gunnar Prokop. Schon bei der Junioren-WM 1989 in Nigeria hatte er sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, nach Österreich zu übersiedeln. "Aber damals, vor der Wende, war das völlig unrealistisch." Nach der Wende sah es anders aus. Und als Turchin aus Norwegen nach Kiew zurückkehrte, ging Rusnachenko nicht mit, sondern reiste weiter, in die Südstadt. Ihr Mann, der ebenfalls Igor hieß, reiste mit. "Das ist meine Bedingung gewesen."

Er wurde Speditionskaufmann, sie wurde eine fixe Hypo-Größe. Und sie wurde Österreicherin. "Das würde heute etwas länger dauern." Damals hat es acht Monate lang gedauert, Prokop war dahinter, weil Österreich zu den Olympischen Spielen 1992 nach Barcelona fuhr. "Gunnar war und ist", sagt Rusnachenko, "ein außergewöhnlicher Mensch. Man hat sich oft geärgert, aber er hatte einmalige Führungsqualitäten." In Barcelona kam – wie acht Jahre später in Sydney – Rang fünf heraus. "Tolle Ergebnisse" , sagt Rusnachenko. Noch toller waren die drei Champions-League-Erfolge, die sie mit Hypo feierte.

Zurück

Zwei weitere Hypo-Triumphe hat Rusnachenko wegen Babypausen versäumt, das dürfte Wikipedia entgangen sein. So oder so erfolgte nach Sydney auch bei Hypo ein Umbruch, Rusnachenko ließ die Karriere in Wiener Neustadt ausklingen. Ganz am Ende kehrte sie zu Hypo zurück, wo sie im Liga-Finale 2009 ein letztes Mal einsprang, weil sich zwei Torfrauen verletzt hatten.

Tiraspol ist sehr weit weg. Nataschas Vater ist verstorben, vor fünf Jahren hat sie ihre Mutter zum letzten Mal besucht. "Mir ist es lieber, die Mama kommt mich besuchen. Dort ist es für mich sehr trist, und für sie ist es hier sehr schön." Natascha und Igor wohnen in Sooß bei Baden, sie haben zwei Buben großgezogen, Alexej (21) studiert Jus in Innsbruck und spielt Eishockey in der Tiroler Liga. Michael (19) spielt Handball, nach drei Jahren bei den Füchsen in Berlin kämpft er nun bei Westwien um Einsätze und absolviert beim Bundesheer die Grundausbildung. Gut möglich, dass man von den sportlichen Buben noch hören oder lesen wird. Es muss ja nicht Wikipedia sein. (Fritz Neumann, 30.1.2017)