Wien – Der größte Trumpf des klassischen Konzertbetriebs ist zugleich auch seine Hypothek: die großen Meisterwerke, landauf, landab gespielt seit einem Jahrhundert oder weit mehr. Das Problem kann dann als umschifft gelten, wenn es – wie hier – schließlich gar nicht mehr als solches erkannt wird. Am ersten Abend seines zweitägigen Gastspiels im Wiener Musikverein gruppierten das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und sein Chefdirigent Mariss Jansons jedenfalls ein wenig abseitige Stücke um ein unbestrittenes Schlüsselwerk des Repertoires.

Auf dem Papier schien das so, realiter aber ganz und gar nicht. Es ergab sich vielmehr ein logischer Bogen über eigentlich höchst Verschiedenem. Vladimír Sommers Antigone-Ouvertüre ist ein filmmusikartig illustrativ-wirksames, dabei leitmotivisch aufgewertetes und handwerklich einwandfreies Gebilde. Und in Sergej Rachmaninows Symphonischen Tänzen op. 45 steckt zumindest ebenso viel symphonische Finesse wie tänzerische Effektsicherheit.

Bestechende Spannung

Interpretation? Offenes Geheimnis des Orchesters und seines Dirigenten ist die Verbindung einer pulsierenden Energetik und bestechender Spannungsbögen mit der Detailarbeit auf allen Ebenen. Schon wie bei Sommer die eingängigen Motivwiederholungen abschattiert wurden, zeigte diese Qualität – ebenso wie bei Rachmaninow der reich differenzierte Klang, der die in der Erfindung nicht immer überkomplexen Rhythmen durchwirkte. Vor allem aber versteht es Mariss Jansons, so sehr er für klare Konturen sorgt, mit ihnen nicht plakativ zu werden, sondern immer so etwas wie einen Tonfall des "Als ob" unterzumischen.

Klang erlöst

Vollends deutlich wurde dies bei Gustav Mahlers Kindertotenliedern mit Gerhild Romberger (anstelle der erkrankten Waltraud Meier) als breit strömend tönender Altsolistin. Während die Sängerin durch Zurückhaltung die triste Melancholie des Zyklus verkörperte, erging sich das Orchester (das im zweiten Konzert Mahlers 9. Symphonie folgen ließ) in den schönsten und luxuriösesten Farben.

Darüber hinaus aber ließen der Dirigent und die geradezu symbiotisch mit seinen Zeichen verbundenen Musiker, die am 31. Jänner übrigens in der Philharmonie de Paris zu hören sind, durch den Wechsel von Brüchigkeit und Innigkeit des Klanges einmalig suggestive Stimmungen entstehen – etwa jene, dass nach aller Bedrücktheit am Ende die Musik doch Erlösung und Seelenfrieden verspricht.

Wem mag überhaupt zu Bewusstsein gekommen sein, dass alle drei Werke aus dem 20. Jahrhundert stammen? (Daniel Ender, 30.1.2017)