Die erste Auslandsreise des gewählten Bundespräsidenten führt Alexander Van der Bellen entgegen langjähriger Gewohnheit nicht nach Bern, sondern zu den europäischen Institutionen – und das ist gut so. Kommende Woche wird er gemeinsam mit dem österreichischen Regierungschef, auch das ist neu, nach Brüssel und Straßburg reisen, wo er mit den Spitzen von Kommission, Rat und Parlament zusammentrifft. Damit rückt Van der Bellen die EU als entscheidenden staatspolitischen Referenzrahmen ins Zentrum seines Amtsverständnisses.

Gleichzeitig hat diese erste Reise des Bundespräsidenten eine enorme realpolitische Dimension. Van der Bellen wird sich wie kaum einer seiner Vorgänger mit einer Welt im Wandel konfrontiert sehen. Autoritär gewendete Dealmaker zwischen Washington, Moskau und Europa bestimmen den populistischen Diskurs, die westlich-liberale Ordnung ist im Abstieg begriffen, und revisionistische Staaten wie Russland und China stärken ihre Positionen für die kommende, multipolare Welt. Eine starke Europäische Union ist für einen Staat von der Größe Österreichs die einzige Möglichkeit, sich vor diesem Hintergrund zu behaupten.

Doch auch die Zukunft des europäischen Friedensprojektes scheint so unsicher wie nie seit seiner Gründung vor ziemlich genau 60 Jahren. Nach der globalen Finanzkrise – die sich in Europa zu einer existenziellen EU-Krise entwickelt hat – werden zunehmend Antworten abseits von Demokratie, Menschenrechten und sozialer Fairness gesucht. Das europäische Versprechen – begründet auf Freiheit, Demokratie und Solidarität – wird von nationalistisch-autoritären Tendenzen überrollt.

Was aber passiert in der österreichischen Politik angesichts tiefgreifender europäischer und globaler Umbrüche, die auch unser Land in den kommenden Jahren grundlegend verändern werden? Kanzler und Vizekanzler haben kürzlich den Versuch unternommen, das laufende Regierungsprogramm auf die Höhe der Zeit zu bringen und die Ministerriege auf eine einheitliche Linie einzuschwören. Weitgehend ausgespart blieben dabei allerdings Europa- und Außenpolitik – und damit Antworten auf wichtige Zukunftsfragen.

Wohlstand und Sicherheit

Dabei wäre es gerade jetzt absolut notwendig, den Zusammenhang zwischen eigenem Wohlstand und Sicherheit sowie einer funktionierenden EU und einer fairen Weltordnung klar darzustellen. Nicht nur im Hinblick auf den österreichischen EU-Vorsitz 2018 (unter den auch der Abschluss der Brexit-Verhandlungen fallen könnte) ist es an der Zeit, eine strategische Vision für Österreichs Rolle in Europa und darüber hinaus zu formulieren. Dazu wird allerdings eine Neuordnung der personellen und institutionellen Zuständigkeiten in der Außen-, Migrations- und Sicherheitspolitik notwenig werden.

Die Themenfelder Europa- und Integrationspolitik erfordern ob ihrer Wichtigkeit die unge-teilte Aufmerksamkeit des Außenministers, dessen nahezu ausschließlicher Fokus auf Migrations- und ideologische Überbaufragen, wie eine Kleiderordnung für Frauen, die Umwälzungen der internationalen Politik vernachlässigt. Eine zeitgemäße österreichische Außenpolitik muss als oberstes Ziel die Überwindung der existenziellen Krise der EU haben und dazu konkrete Vorschläge liefern, die EU-Institutionen stärken und schließlich österreichische Positionen sukzessive mit diesen akkordieren.

Entwicklungspolitik

Stärker hervorgehoben werden muss auch der Zusammenhang zwischen Migration und Entwicklungspolitik. Zwar betont der Außenminister gerne die Bedeutung von "Hilfe vor Ort", um den Migrationsdruck zu verringern; allerdings stehen die aufgewendeten Mittel in keinem Verhältnis zu seiner Rhetorik. Gerade einmal knapp 80 Cent hat die Republik pro Einwohner vergangenes Jahr etwa dem UNHCR zur Verfügung gestellt, Schweden zahlt das Fünfzehnfache!

Unterdessen zeigt sich Kurz überzeugt vom "australischen Modell" der Asylpolitik, welches nicht nur gegen europäisches und das Völkerrecht verstößt, sondern auch im europäischen Kontext undurchführbar ist, wie der Österreicher Gerald Knaus, Architekt des Türkei-Deals, nachgewiesen hat. Dieser hat soeben den sogenannten Malta-Plan vorgelegt, der unter Beachtung europäischer und menschenrechtlicher Normen zur Stabilisierung der Situation beitragen könnte.

Es erstaunt, dass die fundiertesten Vorschläge zur Regelung der Migrationsfrage aus der Zivilgesellschaft kommen, während die dafür Zuständigen allein an populistischen Abschottungsmaßnahmen arbeiten und die ohnehin spärlichen Vorschläge aus Brüssel mit Verachtung strafen. Auch eine durchdachte Nachbarschaftspolitik ist von großer Wichtigkeit für Österreich; die Stärkung demokratischer und zivilgesellschaftlicher Kräfte in Südosteuropa muss Vorrang vor (partei-)politischen Interessen haben.

Fokus auf den Balkan

Statt in die Unterstützung von Viktor Orbán oder des ehemaligen Premierministers von Mazedonien, dessen korrupte Partei dort für die schwerste Staatskrise seit 2001 sorgte, sollte der Außen-, Europa- und Integrationsminister seine Bemühungen auf eine Zukunftsstrategie für den Balkan lenken. Die Staaten dieser Region sehen sich wachsendem Druck von innen und außen ausgesetzt, während das mäßigende Versprechen einer EU-Mitgliedschaft in immer weitere Ferne rückt. Hier sind Ideen für eine längerfristige Übergangslösung dringend gefragt!

Ebenso ist die vom Außenminister propagierte Annäherung an die Visegrád-Staaten kurzsichtig. Während gute Beziehungen zu Österreichs östlichen Nachbarn unbestritten wichtig sind, sollte es sich jedoch sowohl ideologisch als auch wirtschaftlich an seinen nord- und westeuropäischen Partnern orientieren.

Bleiben noch die globalen Fragen der Außenpolitik; Klimawandel, wachsende Ungleichheit, die sich ändernde Weltordnung. Sie alle verlangen, wie auch die vorangegangenen Punkte, von der Bundesregierung eine klare, einheitliche Linie, die vom Bundespräsidenten nach außen hin vertreten werden kann. Dies wäre sicherlich im Sinne der überparteilichen Wählerkoalition, die ihm zum Amt verholfen hat.

Van der Bellens Wahl war ein klares Mandat für Internationalität und eine menschenrechtsbasierte Politik und eine Absage an Abschottung und Alleingänge; die Regierung sollte dieses Mandat ernst nehmen. (Wolfgang Petritsch, 11.2.2017)