Jean-Claude Juncker will bei den Europawahlen im Mai 2019 nicht ein zweites Mal als Spitzenkandidat von Europas Christdemokraten antreten, sich einem aufreibenden Wahlkampf quer durch 27 Mitgliedsländer aussetzen. Das hat der Präsident der EU-Kommission im Interview mit dem Deutschlandfunk deutlich gemacht.

Wirklich überraschend kam das nicht. Der 62-Jährige hatte vor Vertrauten im vergangenen Sommer – nach dem EU-Austrittsreferendum in Großbritannien – davon gesprochen, dass mit Ende der Amtszeit "Schluss ist". Er will endlich Zeit haben, Bücher zu schreiben, seine Erfahrungen, sein Lebenswerk selbst schriftlich zu ordnen.

Erstaunlich ist aber die Zeit seiner Offenbarung. Die EU-Wahlen sind noch weit weg. Es gäbe objektiv keinen Grund dafür, dass ein Kommissionschef so frühzeitig Amtsmüdigkeit signalisiert und damit Spekulationen über einen frühzeitigen Abgang und einen Nachfolger in Gang setzt.

Das gilt umso mehr, als sich die Union gerade in der kritischsten Phase ihrer Geschichte befindet: In den USA trat ein deklariert EU-skeptischer Präsident, der den Euro kippen will, sein Amt an. Die Lage mit Russland und der Türkei hat sich nicht gebessert. Großbritannien wird in wenigen Wochen offiziell den EU-Austrittsantrag stellen. Und die EU-27 sind durch wichtige Wahlen in den drei Gründerländern Niederlande (Mitte März), Frankreich (April) und Deutschland (im Herbst) kaum handlungsfähig. Unsicherheit überall.

Es muss also handfeste Gründe geben, warum Juncker so offenherzig spricht. "Passiert" ist ihm das nicht, noch dazu, weil er eine Hintertür offenließ: Kommissionspräsidenten werden von Regierungschefs vorgeschlagen – notfalls auch ohne Wahlkampf. Juncker könnte sich 2019 "überreden" lassen weiterzumachen.

Aber das ist nicht wahrscheinlich. Vielmehr sind die Ausführungen des Kommissionschefs als eine Art frühes Vermächtnis zu lesen. In vielen Details führte er im Interview vor, woran es in Europa krankt; und was eintreten könnte, wenn die Regierungen und Bürger der Union nicht bald realisieren, dass die Gemeinschaft als solche auf dem Spiel steht: EU ade.

Juncker geht nicht nur vom Brexit aus, er befürchtet gerade durch diesen den weiteren Zerfall der Gemeinschaft. London, so seine Botschaft, werde mit aller Macht versuchen, im Zuge der Austrittsverhandlungen auch noch die Rest-EU zu spalten. Im Tandem mit der US-Regierung in Washington wird die britische Regierung mit Angeboten und Drohungen gegenüber einzelnen EU-Staaten vorgehen. Irland voran, aber auch einige andere enge Partner müssen sich wappnen.

Der frühere "ewige" Ministerpräsident von Luxemburg und langjährige Chef der Eurogruppe kennt alle diese Tricks. Er wirkte schon länger müde, etwas desillusioniert. Die nicht enden wollende "Multikrise" in der Union seit 2008 hat ihm zugesetzt. Noch mehr aber irritiert den Vertreter eines geeinten, versöhnten und politisch integrierten Europa, dass "seine" Regierungschefs in der Tafelrunde bei den EU-Gipfeln ihn und die Kommission, das Gemeinsame, permanent hängenlassen. Statt sich darauf zu konzentrieren, wie man sich als Union aus der Misere herausarbeitet, statt den "EU-Zerstörern" konstruktiv etwas entgegenzusetzen, setzten immer mehr Länder auf Egoismus und Nationalismus. Es scheint, als wollte Juncker ultimativ sagen: Mir geht es nicht (mehr) um mich, wacht auf, kämpft um die EU. (Thomas Mayer, 12.2.2017)