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Proteste für die Verteidigung der reproduktiven Rechte von Frauen in den USA. Hier im Februar 2017 in Chicago.

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"My choice" (Meine Entscheidung): Demonstration für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Irland. Hier in Dublin im September 2016.

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Im Oktober 2016 gingen in Polen zehntausende Frauen auf die Straße, um gegen ein totales Abtreibungsverbot zu protestieren – mit Erfolg.

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"Der gesellschaftliche Zugriff auf den weiblichen Körper bleibt bestehen", sagt die Schweizer Soziologin Franziska Schutzbach.

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STANDARD: In Polen wollte die rechtskonservative PiS-Regierung ein Abtreibungsverbot umsetzen, Einschränkungen werden auch in anderen europäischen Staaten diskutiert, die Trump-Regierung inszeniert sich als "Pro-Life-Regierung". Erleben wir einen Backlash bei den reproduktiven Rechten?

Franziska Schutzbach: Diese politischen Entwicklungen führen besonders deutlich vor Augen, dass der weibliche Körper ein politischer Kampfplatz ist. Das war er schon immer, aber in den aktuellen rechtspopulistischen Diskursen wird das noch deutlicher sichtbar. Es geht wieder um eine direkte Einflussnahme, darum, Frauen vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu unterlassen haben – all das vor dem Hintergrund eines konservativen, patriarchalen Familienideals.

Geschlechterfragen sind ganz allgemein ein sehr dankbares Thema, wenn es darum geht, einfache Antworten auf komplexe gesellschaftliche Probleme zu finden. In sogenannten Krisenzeiten erscheint eine Retraditionalisierung von Familie für viele Menschen attraktiv, starre Geschlechterrollen vermitteln Sicherheit in einer komplexen, globalisierten Welt. Auch der Schwangerschaftsabbruch bietet sich für eine solche Komplexitätsreduktion an, etwa mit der Vorstellung, einen Embryo abzutreiben sei Mord. Rechte Gruppierungen und Parteien nutzen Gender, Geschlechterforschung, Feminismus als Feindbilder und unterstellen ihnen, sie würden eine angeblich natürliche Ordnung bedrohen.

STANDARD: Wie hängen diese konservativen Geschlechterbilder mit dem Erstarken von Nationalismus in Europa zusammen?

Schutzbach: Wir erfahren aktuell auch eine Wiederbelebung von völkischen Ideen, von der Vorstellung einer einheitlichen und "natürlichen" Volksgemeinschaft. Solche Phantasmen sind immer eng mit bestimmten Geschlechterbildern verknüpft: Der Mann zieht in den Krieg und tritt als Verteidiger der Nation auf, während Frauen den Körper der Nation darstellen – diejenigen, die verteidigt werden müssen und die das "Nest" warmhalten. Mit Nationalismus geht also eine neue Idealisierung der Familie einher. Diese Vorstellung von einer natürlichen Ordnung besticht, weil wir uns folglich nicht damit auseinandersetzen müssen, inwiefern persönliche Entscheidungen auch gesellschaftlich bedingt sind, mit Diskriminierungen oder Privilegierungen verbunden sind. Gleichstellungsmaßnahmen erscheinen vor diesem Hintergrund als unnötig und illegitim.

Im Grunde ist diese Argumentation neoliberalen Ideen sehr ähnlich – nur ist hier die Idee, dass der Markt alles regelt. Es braucht gemäß dieser Vorstellung keinen Staat oder keine Gesellschaft, die sich um Gerechtigkeit kümmert oder Gleichheit herstellt. Letztendlich werden so Diskriminierungen legitimiert, Machtverhältnisse erscheinen als naturwüchsig oder als Effekt einer marktförmigen Ordnung. Aktuell nutzen rechte Parteien allerdings auch Frauenrechte oder LGBT-Rechte aus einer rassistischen Logik heraus – etwa um die fortschrittliche westliche Welt zu verteidigen, die von Migration bedroht sei. Die tatsächlichen Bemühungen solcher AkteurInnen um Gleichstellung erschöpfen sich aber meist in der Anerkennung einer formalrechtlichen Gleichstellung. Ein Geert Wilders hat kein tatsächliches Interesse daran, Frauenförderungsprogramme umzusetzen oder Frauenhäuser zu finanzieren. Mit emanzipatorischer Politik hat diese "Verteidigung unserer westlichen Frauenrechte" also sehr wenig zu tun.

STANDARD: In Ihrer Forschung setzen Sie sich mit Fortpflanzungspolitiken auseinander. Familienplanung habe sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einem ökonomischen Thema hin zu einem Thema der Gesundheitspolitik entwickelt. Wie macht sich diese Verschiebung konkret bemerkbar?

Schutzbach: Die entsprechenden AkteurInnen haben sich geändert, es sind nun Gesundheitsorganisationen, die mit der Frage der reproduktiven Gesundheit beschäftigt sind – und nicht mehr mit demografischen, ökonomischen Fragen. Im europäischen Raum ist es vor allem die WHO, die wiederum mit Gesundheitsbeauftragten der einzelnen Regierungen zusammenarbeitet. Auch gesellschaftspolitisch wird über Schwangerschaft, Geburt und Verhütung als Gesundheitsthema gesprochen. Mit dem Gesundheitsframing geht die Tendenz einher, dieses Themensprektrum zu entpolitisieren, es entsteht der Anschein, es handle sich um individuelle Entscheidungen. Dabei bleiben Normierungen unsichtbar, zum Beispiel dass Frauen implizit dem Druck ausgesetzt sind, gesunde Kinder zu gebären, überhaupt ihr Leben optimal zu managen und sich gesund und fit zu halten.

Es handelt sich um eine Politik ohne Zwang, die biopolitische Interessen in die Individuen hineinverlagert. Der gesellschaftliche Zugriff auf den weiblichen Körper bleibt bestehen, es sieht aber nach Freiheit aus, argumentiert wird mit "optimalen Gesundheitsentscheiden" oder "Risikominimierung". Dieser individualisierte Optimierungsimperativ macht es letztendlich schwierig zu erkennen, dass Kinderbekommen kein privates Ereignis ist, sondern auch Teil von gesellschaftspolitischen Dynamiken. Auf diese Weise wird auch das große Thema Care-Arbeit ausgeblendet.

STANDARD: Haben feministische Bewegungen, die auf den Slogan "Pro Choice" setzen, verabsäumt, diesen Zusammenhang stärker in den Vordergrund zu stellen?

Schutzbach: Dass sich das Thema der Wahlfreiheit sehr gut mit neoliberalen Prämissen vereinbaren lässt und dabei fortbestehende Normierungen unsichtbar werden, ist sicher immer wieder aus dem Blick geraten. In den 1990er-Jahren gab es große Fortschritte, reproduktive Rechte wurden von der Uno anerkannt, das war ja auch ein Verdienst internationaler Frauenbewegungen. Es wurde aber verabsäumt, reproduktive Rechte mit reproduktiver Gerechtigkeit zu verknüpfen. An der Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo gab es Kritik insbesondere von Women of Color, die diese Gerechtigkeit einforderten. Für bürgerliche Mittelschichtsfrauen steht vielleicht der freie Zugang zu Verhütung und Abtreibung im Vordergrund, aber für prekarisierte Frauen ist das Thema der Reproduktion ganz eng mit sozialer Sicherheit verknüpft.

STANDARD: In Europa wird auch darüber diskutiert, welche Frauen wie viele Kinder bekommen.

Schutzbach: Dass auch Demografie keineswegs "neutral" ist, zeigt sich in Programmatiken der Weltgesundheitsorganisation. Autochthone verheiratete Paare, die Probleme haben, Kinder zu bekommen, werden darin etwa als PatientInnen adressiert, die unbedingt Unterstützung brauchen, um sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Migrantinnen hingegen kommen in diesen Papieren eher als einheitliche Gruppe vor, die Zugang zu Verhütungsmitteln und Abtreibung braucht – der Kinderwunsch von Migrantinnen ist kein Thema. Auch vor diesem Hintergrund muss noch einmal genau angeschaut werden, was Entscheidungsfreiheit eigentlich bedeutet. Wer ist frei zu entscheiden?

STANDARD: In Polen hat das geplante Abtreibungsverbot zehntausende Menschen auf die Straßen gebracht, in den USA fanden am Tag nach der Angelobung von Präsident Trump landesweit Protestmärsche statt. Zeichnet sich hier eine neue feministische Massenbewegung ab?

Schutzbach: Ich empfinde es durchaus so, dass es gerade einen großen Aufwind gibt. Feminismus hat in den vergangenen vierzig Jahren ja nicht geschlafen, es gab unglaublich viel theoretische Arbeit – etwa zum Thema Intersektionalität: dass es eben nicht nur um Geschlecht geht, sondern auch um Klassenfragen, um Rassismus und andere Diskriminierungsstrukturen. Diese Arbeit wird jetzt auf der Straße sichtbar, die Frauenbewegung macht das, was der Linken sonst kaum gelingt: eine vereinende Bewegung auf die Beine zu stellen, die den reaktionären Kräften etwas entgegenstellt.

Ich finde es bemerkenswert, dass das unter dem Label "Women" bzw. "Women's March" passiert. Feminismus stand in der Außenwahrnehmung doch immer für Partikularinteressen – auch wenn er natürlich immer mehr als das war. Aber jetzt zeigt sich, was Feminismus kann: eine multiple, inklusive Perspektive bieten, verschiedene Diskriminierungsformen und Ausbeutungsverhältnisse in den Blick nehmen. Es stellt sich die Frage, wie lange das Feuer anhält und ob diese Bewegung unter dem Label "Women's March" weitergeht. Aber wenn die Frauenbewegung nun eine einende Kraft entfaltet, während Männerrunden noch immer über die richtige Marx-Auslegung streiten, fände ich das wirklich großartig. (Brigitte Theißl, 16.2.2017)