Alltag in der ostukrainischen Stadt Awdijiwka.

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Kaum jemand regt sich hier noch auf, dass täglich Wohngebiete beschossen werden und Todesopfer zu beklagen sind.

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Die Menschen leben in beschädigten Häusern, oft ohne Heizung.

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Kinder spielen vor Notunterkünften für Ausgebombte.

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Das landschaftliche Idyll existiert nur auf dem Werbeplakat, die verschneiten Hügel durchziehen Krater.

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Awdijiwka. Dort, wo früher der Korridor war, ist jetzt ein Loch. Eine Mine hat die Ziegelwand durchbrochen, die Fenster im Haus bersten lassen und selbst die Einmachgläser zerfetzt. Doch das Wichtigste, sagt Wiktoria Petrowna, ist, dass niemand verletzt wurde. Weder die Kühe noch die Kaninchen noch die Ziegen, die sie im Garten hält. Noch sie selbst, die gerade ihren alten Vater in einem anderen Stadtteil pflegte.

An einer beschaulichen Straße im "alten Awdijiwka", wie der Wohnbezirk hier genannt wird, reihen sich bunte Zäune, Häuser und Gärten aneinander. Nur wenige Hundert Meter weiter ist schon die Frontlinie, die "promka", wie die Industriezone hier heißt, wo die Waffen zwischen der ukrainischen Armee und den Separatisten praktisch nie geschwiegen haben.

Doch zuletzt haben sich die Kämpfe auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet, das von den Ukrainern kontrolliert wird. Auch schwere Artillerie wurde eingesetzt, auf beiden Seiten der Front. In Awdijiwka wurden 200 Häuser beschädigt. Dutzende Menschen sind gestorben, viele wurden verletzt.

Es sind alte und frische Wunden, die das Leben der Stadt prägen. Wiktoria weist auf Einschusslöcher an der Fassade, die noch von alten Kämpfen stammen, seit dem Kriegsausbruch vor drei Jahren. Doch so schlimm wie in den ersten Februartagen dieses Jahres war es hier noch nie, schwören die Nachbarn: Tagelang waren die Bewohner ohne Strom, Wasser und auch ohne Handynetz. "Es war die Hölle", sagt eine Nachbarin.

Fragile Normalität

Von einem Schweigen der Waffen kann auch heute nicht die Rede sein. Immer wieder donnern Explosionen durch die Stadt. Auch heute werden zwei Männer von Granatsplittern verletzt. Aber die 10.000 Explosionen, die die OSZE zuletzt an einem Tag entlang der 500 Kilometer langen Frontlinie registriert hat, sind zumindest auf 700 zurückgegangen.

Genug, um die Stromleitungen zu reparieren und die "humanitäre Katastrophe", vor der Präsident Petro Poroschenko zuletzt gewarnt hatte, abzuwenden: den Totalausfall der Heizung bei einem Frost von minus 20 Grad. Zuletzt lief die Kokerei, die die Stadt mit Wärme versorgt, nur noch im Notbetrieb. So gab es Pläne, die gesamte Stadt zu evakuieren. Die Kämpfe sind diese Woche aber so weit abgeflaut, dass die Leitungen wieder instand gesetzt werden konnten.

In Awdijiwka herrscht eine fragile Normalität. Seit Montag ist auch die Berufsschule wieder geöffnet. "Silvia is in Britain for three months", schreibt Swetlana, die Englischlehrerin, in einem Klassenzimmer an die Tafel. An der Wand hängen Bilder der britischen Queen, gleich neben der Fahne der Ukraine und einem Fanposter des Clubs Schachtar Donezk. Donezk ist von hier nur noch fünf Kilometer entfernt, aber von den Separatisten kontrolliert. Der Club ist nach Ausbruch des Krieges aus Donezk in die Westukraine geflohen.

In Awdijiwka sind hingegen viele geblieben. Es wird geschätzt, dass heute noch 22.000 von den ursprünglich 35.000 Einwohnern in der Stadt leben. 13 der 27 Schüler sind heute in die Englischstunde gekommen. Nicht wegen der Kämpfe, sondern nur wegen der Heizung, die ausgefallen war, war die Schule zuletzt für eine Woche geschlossen worden. Mit Anoraks und dicken Mützen sitzen die Schüler in der Klasse und machen Scherze. Im Innenhof hacken Soldaten Brennholz, als würden sie sich schon für den nächsten Notfall rüsten.

Zuletzt wurde das Nachbarhaus seiner Wohnung von Artilleriefeuer getroffen, erzählt Pascha, ein 16-jähriger Schüler. Sein Schlafzimmer erzittert jede Nacht unter dem Donnern der Einschläge. "Aber es ist trotzdem auszuhalten", sagt er achselzuckend.

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Löcher im Schnee

Auch im Umland der Stadt hat die Wucht der jüngsten Eskalation Spuren hinterlassen: Wie Rußflecken prangen die Einschusslöcher an den sanften, verschneiten Hügeln, die den Weg nach Awdijiwka säumen. Vor allem mit Einbruch der Dunkelheit wird es in Awdijiwka gefährlich, das ist eines der ungeschriebenen Gesetze dieses Krieges. Besuchern wird empfohlen, die Stadt schon am frühen Nachmittag zu verlassen, um auch nicht entlang der Ausfahrtstraßen unter Beschuss zu geraten.

Die Bewohner von Awdijiwka sind der Gefahr derweil oft schutzlos ausgeliefert. "Unser Keller ist kalt und feucht. Wenn es draußen minus 20 Grad hat, hält man es dort keine zehn Minuten aus", sagt Swetlana, die Lehrerin. "Wenn es dunkel wird, weißt du nie, ob du den Morgen noch erlebst", sagt Olja, die am Markt Konfekt verkauft. Heute werden hier die Rollläden aber schon um die Mittagszeit heruntergelassen. Hunde streunen durch den Markt.

Allein das Wort Waffenruhe klingt nach Hohn in einer Stadt, in der die Waffen seit fast drei Jahren nie geschwiegen haben. So sind auch die Evakuierungspläne noch nicht gänzlich in den Schubladen verschwunden. "Nur Gott weiß, wie es weitergeht", sagt Firson Bekua, der stellvertretende Leiter der Stadtverwaltung. "Aber wir sind zumindest vorbereitet, wenn alles wieder von vorn losgeht."

Zurück im "alten Awdijiwka" versucht Wiktoria, zumindest die schlimmsten Folgen des Beschusses zu beseitigen. Die zerborstenen Fensterscheiben sind mit Plastikplanen überklebt. Ihr Handy klingelt, sie hebt ab. "Hallo?" Pause. "Wir haben ein Loch im Haus. Aber mir geht es gut. Eigentlich ist alles so wie immer." (Simone Brunner, 19.2.2017)