"Wer einen religiös aseptischen öffentlichen Raum will, will ein anderes Land", sagt Kardinal Christoph Schönborn. Sein Bruder Philipp brach früh mit der Kirche, wurde dann sehr spät aber zum "normalen Katholiken".

Foto: Robert Newald

STANDARD: Herr Schönborn, seit kurzem zeigt das Kunsthistorische Museum sechzehn großformatige Tableaus unter dem Titel "Sammlung". In Ihrem Werk beschäftigen Sie sich immer wieder mit dem Thema Religion. Im Gegensatz zu Ihrem Bruder war Ihr Weg dorthin aber weit, oder?

Philipp Schönborn: Meine Ausstellung beschäftigt sich mit den Museen, dem Sammeln und der Kunst. Das sind grundlegende geistige Werte unserer Kultur, und sie sind gefährdet. Zur Religion kam ich nicht über den klassischen katholischen Weg, das ist richtig. Ich habe über eine indische Meisterin und übers Meditieren wieder zurückgefunden, und zwar zu dem, was naheliegend ist. Ich lebe in einem katholischen Land, bin mit der Kirche aufgewachsen. Heute gehe ich jeden Tag in die Messe und bin ein normaler Katholik – allerdings mit einer großen Freiheit. Wenn ich jetzt zum Beispiel wiederverheiratet wäre und mein Bruder würde mir die Kommunion verwehren, da würde ich aufstampfen.

Christoph Schönborn: Uns hat Papst Franziskus ja gezeigt, dass man bei jedem Einzelnen genau hinschauen muss. Dein Weg ist authentisch und beeindruckt mich enorm.

STANDARD: Ihr Künstlerleben lief aber nicht gerade nach Plan.

Philipp: Ich habe die Bundesgewerbeschule mit Ach und Krach geschafft und bin zu Mercedes gegangen. Da hatte ich in Stuttgart ein Gspusi und dadurch eine gute Adresse. Ich kann nur nicht angestellt sein. Ich bin immer schon renitent gewesen. Und da bin ich in der Kunst gut aufgehoben.

Fotografische Detailverliebtheit: Philipp Schönborn setzt Bildausschnitte von Museumsexponaten zu großformatigen Tableaus zusammen. "Hände 2014" ist eines von insgesamt 16 Werken, die derzeit im Bassano-Saal des Kunsthistorischen Museums zu sehen sind.
Foto: Philipp Schönborn / KHM

STANDARD: Durch Fügung Fotograf, durch Fügung auch Kardinal?

Christoph: Ich bin bei den Dominikanern eingetreten und hatte als Lebensperspektive ein Klosterleben. Dort wurde befunden, dass ich studieren soll. Danach bin ich gefragt worden, ob ich die Universitätslaufbahn einschlagen möchte. Dass einmal ein Bischofsamt kommt, war für mich nicht in meinem Horizont. Obwohl es von der Familiengeschichte her naheliegend ist. Ich habe später einmal festgestellt, dass seit dem 16., 17. Jahrhundert alle, die in meiner Familie Priester geworden sind, auch Bischöfe wurden.

Philipp: Das Bischofsgen!

STANDARD: Würden Sie Ihren Bruder als Karrieretypen bezeichnen?

Philipp: Wir haben uns als Geschwister auch immer gefragt, wie er da so Karriere macht. Woher das kommt. Vielleicht hat er doch den Willen zur Macht.

Christoph: Ich habe durch meine Professur schnell einige führende Theologen kennengelernt. Und durch die Berufung zum Sekretär des Weltkatechismus dann auch viele Bischöfe. Das hat vielleicht Papst Johannes Paul II. beeinflusst, mich zum Weihbischof in Wien zu machen. Aber natürlich stellt sich die Frage, ob dahinter auch ein gewisses Machtgespür war. Ich kann nicht ausschließen, dass es in meiner Seele auch solche Ecken gibt.

STANDARD: Für Aufsehen hat der Satz Ihrer Mutter gesorgt, das Papstamt sei "zu schwer für Sie". Hat Sie die Aussage verwundert?

Christoph: Ich musste lachen. Die Ausdrucksweise unserer Mutter ist immer sehr direkt. Für meinen Buben wäre das nichts, hat sie gesagt. Er habe schon genug mit den Wiener Intrigen zu tun, die römischen wären zu viel. Es war ihr dann peinlich, dass diese Aussage im Bezirksblättchen rund um die Welt gegangen ist.

STANDARD: Ihre Mutter musste aufgrund der Benes-Dekrete im Jahr 1945 binnen einer Stunde mit Ihnen die tschechische Heimat verlassen. Erinnert Sie diese Geschichte von Flucht und Vertreibung an die vielen Flüchtlinge, die nach Europa kamen und kommen?

Philipp: Ja. Ich will sie nicht zurückschicken müssen. Die müssen kommen dürfen, wenn sie verfolgt werden.

Christoph: Unsere Mutter hat einmal gesagt: "Keiner verlässt freiwillig seine Heimat." Man geht nicht aus Jux und Tollerei auf die Flucht. Dahinter stecken in großer Mehrheit sehr tragische Situationen.

STANDARD: Europas Antwort heißt aber: abschotten.

Christoph: Es gibt darauf für mich zwei Antworten. Die eine lautet: Den Flüchtling, der vor der Tür steht, darf ich nicht hinausschmeißen. Das andere ist die Besinnung auf die Ursachen. Wir im Westen tragen doch oft Schuld daran. Diese Flüchtlingsströme haben sehr viel auch mit uns zu tun und mit dem, was von der westlichen Politik getan worden ist.

STANDARD: Wir versuchen gerade, dass niemand bis zur Türe kommt.

Christoph: Wenn das heißt, dort Frieden zu schaffen, ist das in Ordnung. Ein Marshallplan für Afrika, wie manche zu Recht gefordert haben, wäre gut.

Philipp: Bei uns war die Situation ein bisserl anders. Die Menschen in Syrien müssen selbst entscheiden, ob sie flüchten oder ausharren. Bei uns hieß es nur: Raus mit euch Deutschen!

STANDARD: Es hat sechs Jahre gedauert, bis Sie in Schruns eine neue Heimat wiedergefunden haben.

Philipp: Viele kleine Stationen, Horn, Graz, Lugano usw.

Christoph: Unsere Mutter hat eine Arbeit in Bludenz und eine Wohnung in Schruns gefunden. Das war 1951. So sind wir in diese Gemeinde gekommen, die noch am ehesten das Zuhause ist.

Philipp: Ja, dort waren wir die längste Zeit an einem Ort – meine drei Geschwister sowieso. Ich selbst war bald weg im Internat.

STANDARD: Ihre Mutter hat einmal gesagt, dass sie "25 Jahre gebraucht hat", bevor sie "wirklichen Kontakt zu den Einheimischen" bekommen habe.

Philipp: Die engen Täler schaffen auch ein bisschen enge Horizonte. Als Fremder hat man es, glaube ich, in jedem Alpental nicht ganz leicht, anfangs.

Christoph: Ich weiß nicht, wie es dir gegangen ist. Aber ich habe in vier Wochen den Dialekt gekonnt.

STANDARD: Ihr Vater diente in der Wehrmacht, lief zu den Briten über. War die Desertion Thema in der Gemeinde, im familiären Umfeld?

Christoph: In Schruns sicher nicht.

Philipp: Vielleicht wusste es ja auch niemand.

Christoph: Mit uns hat er nie darüber gesprochen. Ich glaube, unser Vater tat dies in seinem Freundeskreis. Unsere Mutter hat gesagt, dass er das nur ein einziges Mal erzählt hat, nämlich, wie sie sich zum ersten Mal nach dem Krieg in Graz wiedergesehen haben. Noch in der englischen Uniform. Er hatte ihr davor schon gesagt, er werde bei der ersten Gelegenheit überlaufen.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Sie haben das erst Jahre später erfahren?

Christoph: Gewusst haben wir es. Wir wussten aber auch, dass Verwandte ihm das sehr übel genommen haben.

Philipp: Ihn beschimpft haben!

Christoph: "Das tut man nicht!", hieß es. Eine Tante, deren Sohn in Hamburg gefallen war, sagte, dass ihn quasi der Cousin getötet hat. Dabei hat unser Vater ja keine Waffe getragen, er war Übersetzer in der britischen Armee.

STANDARD: Nach der Scheidung der Eltern begannen für Sie zwei Lebenswege, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Wie erlebt man als zwei Jahre Älterer seinen Bruder, der sich zur Religion hingezogen fühlt?

Philipp: Das war nicht zu übersehen. Ich war – sozusagen – an der anderen Front. Damals musste man eine Weile lang in die Kirche gehen, aber so mit 14 war das erledigt. Dann habe ich über seinen religiösen Weg nur noch den Kopf geschüttelt. Wie soll ich es nennen? Mildes Lächeln vielleicht?

Christoph: Er hat mich immer "Landpfarrer" genannt.

STANDARD: Ist Ihre Mutter religiös?

Christoph: Man ist halt in die Kirche gegangen. Das hat dazugehört. Unser Vater ging nicht. Bei meiner Priesterweihe war er aber.

STANDARD: Woher kam dieses Bekenntnis zur Kirche?

Christoph: Wir hatten einen Religionslehrer im Gymnasium ...

Philipp: Wir? Ich war ja nicht auf dem Gymnasium. Mit zehn Jahren hat man mich zartes, kleines Büblein ins Werksschulheim gebracht, weil ich zu Hause als zu unverträglich galt.

Christoph: Da bin ich dran schuld. Wir haben wahnsinnig gerauft. Wobei er der Stärkere war.

Philipp: Und uns schwere Waffen nachgeworfen. Das Verhältnis hat sich über die Jahre sehr geglättet. Aber ich denke, das ist das Normale zwischen zwei Brüdern, die nur zwei Jahre auseinander sind. Er war der Jähzornige.

STANDARD: Sie waren dann schnell Ministrant.

Christoph: Nach meiner religiösen Erweckung mit elf Jahren habe ich begonnen zu ministrieren. Ich bin dann auch in der Pfarre aktiv geworden – bis hin zu dem Sager unserer Mutter gegenüber: "Mein Zuhause ist die Pfarre." Das war schon eher mit 14, wenn man ins rebellische Alter kommt. Bei mir ist das Rebellische in Richtung Religion gegangen.

Philipp: Das war bei mir anders. In dieser Phase war auch keine Kommunikation mehr möglich. Wir haben das respektiert, aber kopfschüttelnd. Da wurde nicht versucht, ihn zu missionieren. Zum Beispiel zu sagen: Mach doch mal mit den Frauen irgendwas – vielleicht bringt es dich ab!

Christoph: Ich war ein ziemlich unerträglicher Tugendbold für meine Geschwister. Ich kann mich noch erinnern, wie unser Pfarrer mir gesagt hat: Sei nicht so schulmeisterlich. Ich glaube schon, dass meine Frömmigkeit echt war. Aber es war ein Teil auch ein bisserl anmaßend dabei.

Philipp: Ich musste dagegenhalten und übertreiben. Noch schlimmere Geschichten erzählen ...

Christoph: ... um den Bruder zu schockieren.

Philipp: Er hat aber nie gemahnt. Ich habe nur den Gebetsdruck im Nacken gespürt. Er hat jahrelang gebetet, dass der Kerl sich bekehrt. Stimmt's?

Christoph: Na ja. Ein bisserl.

STANDARD: Eine politische Frage: Ist das Burkaverbot in Österreich sinnvoll?

Christoph: Es ist eine Sache, wenn man, wie jetzt im Regierungsprogramm, sagt, dass bei gewissen Berufskleidungen ein Kopftuch oder auch andere religiöse Symbole nicht passen. Eine Polizistin mit einem Brustkreuz oder Kopftuch herumlaufen zu lassen geht nicht. Daraus aber ein generelles Kopftuchverbot abzuleiten ist unzulässig – und es ist diskriminierend. Die Freiheit, ein Kleidungsstück zu wählen, muss den Menschen zugestanden werden. Es spielt keine Rolle, ob aus religiösen oder anderen Motiven. Die Burkafrage ist eine andere. Aber das sollte nicht mit einem generellen Verbot, sondern mit Klarstellungen, in welchen Situationen das Tragen nicht erlaubt ist, verbunden werden – etwa vor Gericht.

STANDARD: In vielen Gerichtssälen steht ein Kreuz. Auch darüber gab es jüngst eine Diskussion.

Christoph: Die Debatte um religiöse Zeichen im öffentlichen Raum ist notwendig. Weil die Grundsatzfrage ist: Hat Religion etwas mit dem öffentlichen Leben zu tun? In unserem Land sind überall christliche Symbole zu sehen: Wegkreuze, Marterln, Kirchtürme oder Gipfelkreuze. Wer einen religiös aseptischen öffentlichen Raum will, will ein anderes Land. 80 Prozent der Österreicher und Österreicherinnen wünschen sich, dass Österreich ein christliches Land bleibt, was auch immer sie darunter verstehen.

STANDARD: Würden Sie sich eigentlich einen Bruder wünschen, der Papst ist?

Philipp: Nein. Es reicht schon, wenn ich durch Österreich fahre und höre: Schönborn? Sind Sie der Onkel vom Kardinal? Es gab auch schon die Fragen, ob ich der Vater sei. Papst wäre mir gar nicht recht. Braucht man da nicht auch als Bruder einen Bodyguard? Vielleicht werde ich gar entführt. Für einen Papstbruder gibt es viel Geld. Also: Nein, danke. (25.2.2017)