"Der Oma kann man eben keine Torte abschlagen."

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Die durchschnittliche Alterspension für Frauen liegt bei 982 Euro. Sozialminister Stöger verweist dennoch auf die im Vergleich zu Deutschland niedrigere Armutsgefährdung.

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Wien – Alois Stöger leistet nur kurz Widerstand. Eigentlich habe er sich nach den weihnachtlichen Exzessen Enthaltsamkeit auferlegt, sagt der Sozialminister – um dann doch der Versuchung aus Zuckerglasur, Mohn und Ribiselmarmelade zu erliegen: "Der Oma kann man eben keine Torte abschlagen."

Die "Vollpension" lebt davon, dass es vielen Menschen ähnlich ergeht. Die geilste Mehlspeis‘ gebe es nun einmal bei der Oma und der Tant‘, wirbt das Souterrainlokal unweit des Wiener Naschmarkts, und das ist nicht nur ein leerer Slogan. Tatsächlich sind es Frauen jenseits der 60, die in der mit spacig beleuchteten Backöfen ausgestatten Schauküche nach eigenen Rezepten ihre Künste entfalten. Auch die auf Second-Hand-Plattformen erstandenen Polstermöbel könnten bei Großmuttern stehen, und gehe es hoch her, sagt die 30-jährige Chefin Hannah Lux, "dann werden die Gäste auch einmal zum Abservieren eingeteilt".

Mohntorte mit sozialem Anspruch

Stöger findet an der Vollpension allerdings nicht nur die Mohntorte gut. Für ihn gibt das aus Alt und Jung gemischte Team eine vorbildhafte Antwort auf eine der brennendsten Fragen, denen sich ein Sozialminister stellen muss: Wie kann die Gesellschaft das Potenzial der rapide wachsenden Seniorenschar nützen?

Die 72-jährige Marianne hat dank der Vollpension eine Rolle gefunden. Vier Jahrzehnte lang hat sie in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, doch irgendwann war der Ruhestand unaufschiebbar, und die Männer seien ihr im Laufe des Lebens "irgendwie abhandengekommen". Statt einsam zu versauern, steht Marianne nun mit weißer Schürze und einem "Oma vom Dienst"-Schild im Lokal – obwohl sie das finanziell nicht wirklich nötig habe.

Viele andere der 20 geringfügig angestellten Pensionistinnen im Lokal hätten das sehr wohl, sagt Lux. Die durchschnittliche Alterspension für Frauen liegt bei 982 Euro, wer in der Vollpension in die Speisekarte schaut, lernt: Ein halbe Million Menschen im Seniorenalter lebe hierzulande allein, ein Viertel davon unter der Armutsgrenze, ein weiteres Viertel "hauchdünn" darüber.

Alt und abgehängt

Abgehängt am Abstellgleis: Das Problem setzt dabei bereits vor Pensionsantritt ein. In der Gruppe der über 50-Jährigen wuchs die Zahl der Arbeitslosen in den vergangenen zwölf Monaten markant, wer in dem Alter einmal den Job verloren hat, findet besonders schwer zurück. Große Stücke setzt Stöger deshalb in die "Beschäftigungsaktion 20.000", mit der die Regierung ebenso viele Jobs – etwa bei gemeinnützigen Firmen – für ältere Arbeitslose schaffen will.

Doch ist es realistisch, dass die Betroffenen über diesen Umweg auf den regulären Arbeitsmarkt finden? Der Minister bejaht die Frage nicht, von reiner Beschäftigungstherapie will er dennoch nicht sprechen. Es gelte Arbeitsplätze zu schaffen, "die derzeit niemand zahlen will, etwa Sekretariatsjobs an Schulen, um Lehrer zu entlasten. Außerdem, sagt Stöger, "müssen wir den älteren Menschen ihre Würde zurückgeben".

"Darum geht es bei uns genauso", sagt Kaffeehauschefin Lux, "wir wollen die Menschen animieren, sich noch einmal einen Ruck zu geben." Ob das Konzept der Vollpension, die als gefördertes Sozialprojekt begann und nun wie ein normales profitorientiertes Lokal funktioniert, flächendeckend umsetzbar ist? Ein Modell, das in einem hippen Wiener Innenbezirk funktioniere, lasse sich nicht unbedingt aufs Land überstülpen, sagt Stöger, da brauche es regional angepasste Ideen. Für vielversprechend hält er etwa, Senioren für ein gemeinsames Mittagessen mit Kindergärten kochen zu lassen: "Selbst, wenn die Wirtshäuser vor Ort damit nicht immer eine Freud‘ haben."

G'riss um Oma-Job

Ein Missverständnis will der Sozialdemokrat aber vermeiden. Es gehe bei all den innovativen Projekten, wie sie das Ministerium immer wieder fördert, um eine Ergänzung zum Sozialstaat, nicht um Ersatz: "Anspruch muss bleiben, dass die Menschen von der Pension allein leben können." Aus gutem Grund habe die Regierung eben die Ausgleichszulage – eine Art Mindestpension – für Bezieher mit langer Berufstätigkeit angehoben, der Ausbau der Kinderbetreuung gebe gerade Frauen die Chance auf höhere Einkommen und damit auch Pensionen.

Ob Stögers Maxime Realität ist? Der Minister verweist auf die im Vergleich zu Deutschland niedrigere Armutsgefährdung, Lux auf ihre Erfahrung. Wenn alle Menschen von ihrer Pension gut leben könnten, dann wäre das G’riss um einen Job in der Vollpension wohl kaum so groß: Auf der Warteliste stehen derzeit nicht weniger als 70 Omas. (Gerald John, 6.3.2017)